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Sao Paulo ist laut. Obwohl ich schon seit über 24 Stunden auf den Beinen war, bzw. für 13 Stunden auf den Arschbacken, konnte ich in meiner ersten südamerikanischen Nacht nicht gut einschlafen. Sao Paulo ist eine laute Metropole, die auch nachts nicht ruht. Durch die abendliche Wärme hatten wir die Fenster geöffnet und waren so empfangsbereit für die nächtliche Geräuschkulisse der Millionenstadt. Dazu gehörten neben den Motoren aufheulen lassenden Autos auch mitteilungsbedürftige Brasilianer, deren nächtliche Botschaften ich mangels Sprachkenntnissen nicht entschlüsseln konnte. In dieser Nacht erfuhr ich auch durch Phillips Nachbarn, dass Brasilianer fernsehverrückt sind, und die Glotze zu jeder Tages- und Nachtzeit mit hoher Lautstärke läuft. Auf das kaum zu ertragende Fernsehprogramm werde ich später noch eingehen. Irgendwann war ich dann doch eingeschlafen und verbrachte meine erste Nacht auf einem fremden Kontinent völlig traumlos.
Gegen 11.00 Uhr mittags waren Thomas und ich dann erwacht. Phillip hatte uns eine Nachricht hinterlassen, dass er schon zur Arbeit sei und wir ihn dort anrufen sollten. Zunächst versuchte ich mit meinem Handy zu Hause anzurufen, um eine geglückte Ankunft zu vermelden, was aber nicht funktionierte. Eine SMS kam dann aber doch bei meiner Mutter an, die mich dann auf mein Handy zurückgerufen hat. Die Verbindung war überraschend gut, und wie sich im Nachhinein herausstellte, auch nicht zu teuer. Nach der ersten Berichterstattung ans mütterliche Hauptquartier und einem Anruf bei Phillip, zog es uns hinaus in unser erstes brasilianisches Tageslicht.
Hier ein Blick aus Phillips Wohnungsfenster:
Die Sonne war warm, aber nicht so heiß, wie ich erwartet hatte (mit der Zeit haben wir gemerkt, dass es in Sao Paulo immer etwas kühler ist, als in der Umgebung, z. B. in Campinas, das nur eine Stunde entfernt liegt). Auf dem Weg zu Phillips Arbeitsplatz sind wir noch in einen der unzähligen kleinen Kioske hinein, um uns etwas zu trinken zu kaufen. Dort machten wir eine Erfahrung, die wir noch viele Male in Brasilien machen sollten. Ein 50-Reais-Schein ist einfach zu groß zum Bezahlen. Aus Angst vor Überfällen haben die kleinen Geschäfte einfach nicht so viel Wechselgeld. Leider spucken die Geldautomaten aber oft 50-Reais-Scheine aus, so dass man jede Gelegenheit zum Wechseln nutzen sollte.
Da ich aber vom Flughafen noch genug Kleingeld dabei hatte, ging es kurz darauf mit Wasser ausgerüstet weiter durch den Großstadtdschungel. Der erste auffällige Unterschied zum deutschen Großstadtleben ist, dass sich in Sao Paulo das Leben auf der Straße abspielt. Überall sitzen die Leute an der Straße vor ihren Häusern oder in Cafés und unterhalten sich. Überall gibt es kleine Geschäfte, Bäckereien (Paderias), Cafés, Werkstätten usw. Es ist ein ständiger Strom von Passanten, der auf den Gehwegen flaniert und die stark frequentierten Straßen überquert. Die Straßenüberquerung ist eine wirklich heikle Angelegenheit im anarchischen Straßenverkehr, in dem jeder nach seiner Laune fährt und die Spuren wechselt. Zum Glück gibt es viele Ampeln, obwohl sich die meisten Fußgänger nicht daran halten. Auch wenn wir in unseren neun Wochen in Brasilien keinen Zusammenprall zwischen Mensch und Automobil beobachten konnten, drängt sich bei den vielen an Krücken laufenden Menschen der Verdacht auf, dass dies gar nicht so selten passiert. Und die Menschen, die dort an Krücken laufen, haben nicht diesen typisch deutschen in-vier-Wochen-bin-diesen-Scheiß-Gips-los-Gang drauf, sondern einen, der vermuten lässt, dass sie nie wieder richtig laufen werden. Da bin ich, bei aller Kritik, unserem Gesundheitswesen doch dankbar.
Aber genug der Abschweifung und zurück zu Thomas‘ und Markus‘ erstem Abenteuer in der Großstadt. Konnten wir in der Nacht noch feststellen, dass Sao Paulo laut ist, haben wir nun auch noch gemerkt, dass Sao Paulo stinkt. Von allen Seiten drängen sich einem die verschiedensten merkwürdigen Gerüche auf. Aus jedem Haus, an dem wir vorbeigelaufen sind, strömte ein anderer Geruch.
Ein weiterer Unterschied zu Deutschland sind die Obdachlosen. Sie sammeln sich nicht einfach an einigen bestimmten Punkten in der Stadt, sondern liegen überall rum, auch mitten auf dem Bürgersteig. Das sind meist Cracksüchtige, die so weggetreten sind, dass sie um sich herum gar nichts mehr mitbekommen.
Während wir all diese Eindrücke in uns aufgenommen haben, und uns an Phillips Wegbeschreibung hielten, standen wir plötzlich vor seinem Arbeitsplatz, dem Institut Gtech.
Hier stehe ich mit Badah und Lea vor dem Eingang:
Das Institut arbeitet mit Kindern und Jugendlichen. Mit Hilfe von Kunst – vor allem Graffiti – versuchen sie die Kinder auf der Straße zu erreichen.
Diese Arbeit fand während unserer Anwesenheit in Sao Paulo allerdings nicht statt, da das Institut renoviert wurde. Wir konnten aber einige der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kennenlernen. Es gab unter ihnen auch welche, die Deutsch gesprochen haben. Insgesamt waren alle sehr freundlich, aber auch sehr im Stress, weswegen wir ihnen nicht länger auf die Nerven gehen wollten. Wir haben uns entschieden, Sao Paulo auf eigene Faust zu erkunden. Doch vorher ging er noch zum Mittagessen ins KiloGrama. Einem Restaurant, das wir in den nächsten Tagen noch gut kennenlernen sollten.
Das Prinzip des Restaurants ist ganz einfach. Es gibt ein reichhaltiges warmes Büffet, das sich der Kunde auf den Teller türmen kann. Nun geht er zur Kasse, wo der Teller gewogen wird und der Kunde fürs Gewicht zahlt. Auch wenn ich nicht wusste, was ich mir da alles auf den Teller geholt habe, hat es mir größtenteils gut geschmeckt. Dass ich mir mein Essen auch selber aussuchen konnte, ohne etwas von einer Karte, die in einer mir unbekannten Sprache geschrieben ist, bestellen zu müssen, zerstreute meine im Vorfeld der Reise aufgekommenen kulinarischen Bedenken.
Mit vollem Magen ging es dann für uns drei Deutsche auf Expedition in den Großstadtdschungel. Wir wollten zu Avenida de Paulista gehen, dem finanziellen Zentrum Sao Paulos. Die Wegbeschreibung war sehr einfach. Von Badahs Wohnung sollten wir einfach links um die Ecke, dann noch mal links und dann immer gerade aus. Dank der übersichtlichen Karte war es für uns auch nicht schwierig, denn Weg zu finden. Bis zur „Paulista“ waren es ungefähr zwanzig Minuten Fußweg durch eines der wohlhabendsten Viertel der Stadt. Es waren eine Menge Leute unterwegs, die sich kaum um die zahlreichen roten Fußgängerampeln kümmerten. Was mich angesichts des chaotischen Straßenverkehrs doch etwas beunruhigte. Ich blieb dann auch lieber bei Rot stehen während Thomas und Lea sich eher den lokalen Gepflogenheiten anpassten. Es dauerte auch nicht lange, bis wir denn ersten Unfall mitbekommen haben. Ein Motorradkurier wurde von einem Auto umgefahren. Das Auto fuhr dann einfach weiter. Zum Glück kümmerten sich aber Passanten um den Verletzten.
Auf halber Strecke zur Paulista machten wir Pause in einem Park.
Bei hochsommerlichen Temperaturen genossen wir diese kleine Insel der Ruhe im hektischen Großstadtgewimmel. Zum ersten Mal konnte ich in Ruhe realisieren, dass wir jetzt auf einem völlig anderen Kontinent waren.
Auf der Paulista ging es noch hektischer zu. Unzählige Menschen unterschiedlichster Hautfarbe in jedem Alter wuselten geschäftig durch die Einkaufs- und Bankenstraße. Von der südamerikanischen Gelassenheit konnte ich hier noch nicht viel erkennen.
Da es hier unzählige Banken gab, entschied ich, mal mein Glück an einem der Bankautomaten zu versuchen. Mit gezückter Bankkarte ging es zur Itau-Bank. Brasilianische Banken und Geldautomaten unterscheiden sich auch nicht groß von den europäischen. Aber es kommt auf die kleinen Unterschiede an. In diesem Fall war der kleine Unterschied ein Hohlraum zwischen Kartenschlitz und Gehäuse, der meine Karte in den schwarzen Tiefen des Bankautomaten verschwinden lies. Konnte mich die südamerikanische Hitze bisher noch nicht zum Schwitzen bringen, schaffte es nun dieser Bankautomat. Die Bank war nämlich schon geschlossen. Hier stand ich nun ohne Portugiesischkenntnisse und ohne Bankkarte. Ich klopfte dann an die Scheibe, da im Inneren noch einige Angestellte unterwegs waren. Die reagierten nicht auf mein Klopfen, und ich begann mir nun zum ersten Mal, wirklich Sorgen zu machen. Doch in diesem Moment leichter Verzweiflung rettete mich die typisch brasilianische Hilfsbereitschaft. Eine Kundin hatte mein Dilemma mitbekommen und rief eine Angestellte zu sich, um ihr mein Problem zu erklären. Nach Vorlage meines Ausweises wurde der Automat geöffnet und mir meine Karte zurückgegeben. Von Bankautomaten hatte ich jetzt erst einmal die Schnauze voll.
Sichtlich erleichtert, aber auch mit ein wenig peinlich berührt ging ich nun mit Lea und Thomas zurück. Nachdem ich mich von diesem Schock erholt hatte, ging ich auch in eine andere Bank um etwas Geld abzuheben. Es funktionierte einwandfrei, denn die meisten Bankautomaten können auch Englisch. Die Itau-Bank sollte ich aber für den Rest meines Aufenthaltes nicht mehr betreten.
Am Abend sollten wir dann noch mehr von der brasilianischen Gastfreundschaft genießen können. Eunice, die Kollegin von Badah hatte uns eingeladen, den Abend mit ihr zu verbringen. Mit ihrem Kleinwagen holte sie uns vor Badahs Wohnung ab. Zu dritt quetschten wir uns auf die Rückbank. Da ich Eunice Fahrstil schon vom Vorabend kannte, hatte ich ein leicht mulmiges Gefühl. Badah, der inzwischen immer besser Englisch sprach, erklärte uns vom Beifahrersitz aus, dass wir bei einer Freundin von Eunice eingeladen waren.
Los ging es – mit dem schon gewohnt hektischen Fahrstil stürzte sich Eunice in den Großstadtverkehr, die Türen waren dabei wie immer – aus Angst vor Überfällen – verschlossen. Es war ungefähr 18.00 Uhr und schon dunkel, was für uns schon ein wenig gewöhnungsbedürftig war, da die Sonne in Deutschland im Sommer erst sehr spät untergeht.
Sao Paulo bei Nacht ist jedenfalls ein Erlebnis. Die zahllosen Lichter der unzähligen Hochhäuser erleuchteten den schwarzen Hintergrund, ähnlich wie Sterne den Himmel. Wir sausten über die mehrspurigen Straßen, in ständiger Angst vor einem Zusammenprall. Ich war mir nämlich noch nicht sicher, ob Eunice wusste, was sie da tat oder ob es einfach der typische Fahrstil für Sao Paulo war.
Im richtigen Viertel angekommen hatte Eunice Schwierigkeiten, das richtige Haus zu finden, da hier einfach alles gleich aussah. Nach einigen gewagten Wendemanövern und einem beinahe Zusammenstoß mit einem Roller, sind wir endlich am Ziel angekommen. Wie jedes brasilianische Haus lag auch dieses hinter einer hohen Mauer und einem Zaun. Eine kleine Frau mittleren Alters begrüßte uns auf die typische brasilianische Art, also eine Umarmung zusammen mit dem Aneinanderdrücken der beiden Wange. Eine Begrüßung, an die ich mich wohl nie gewöhnen werde, da ich Körperkontakt eher scheue. Nach kurzem Smalltalk bat sie uns an den Küchentisch, wo ein extra für uns gebackener Kuchen wartete. Dazu kamen noch die typisch brasilianischen Käsebällchen und Kaffe. Unsere Gastgeberin sprach zwar weder Deutsch noch Englisch, dafür aber ein bisschen Französisch. Was uns aber nicht weiterhalf, da wir kein Französisch sprachen. Ich hatte es nach der achten Klasse und einer Sechs auf dem Zeugnis abgewählt. Die Verständigung lief aber dank der Hilfe von Badah ganz gut. Ich habe an diesem Abend mehr Portugiesisch gelernt als in drei Monaten Sprachkurs.
Unsere Gastgeberin ist Psychologin, die eine Weile in Paris studiert hat. Nun lebt sie alleine in Sao Paulo und erzählte von den Beziehungsschwierigkeiten ihres erwachsenen Sohnes. Als wir aufbrachen waren wir noch ganz perplex von der Gastfreundschaft dieser Frau, die uns gar nicht kannte. Ich glaube nicht, dass wir in Deutschland Ähnliches erlebt hätten.
Nach dem gemütlichen Beisammensein hieß es nun wieder zurück in Chaos, sprich in Eunice Auto. Nun gab es eine kleine Rundfahrt, vorbei an einigen Sehenswürdigkeiten, an die ich mich aber leider nicht mehr erinnern kann. Ich war einfach zu sehr auf die anderen Autos fixiert.
Nachdem wir einige Zeit im Kreis gefahren sind, machten wir noch einen Stopp in einem der zahlreichen Parks Sao Paulos. Es war ungefähr 21.00 Uhr. Der Abend war warm und bis auf ein paar Skater war in dem Park nicht viel los. Wirklich sehenswert war das ungewöhnliche Museum. Das Dach, beziehungsweise die Wand, zog sich wie ein Zelt in einer langen Schräge vom Boden bis zur Spitze. Vor dem Gebäude saß ein einsamer Wächter auf einem Stuhl und passte die ganze Nacht darauf auf, dass keine Skater das Dach als Rampe missbrauchen.
Wir streiften eine Weile gemütlich plaudernd durch den Park, bevor es zurückging. Unterwegs machten wir noch Halt in einer Bar und versuchten mit Hilfe von Caipirinha unsere Sprachkenntnisse zu trainieren. Es entstand ein babylonischer Sprachwirrwarr, der darin endete, das Badah Eunice auf Englisch ansprach, und sich wunderte, dass sie kein Wort verstand.
Nachdem sich Eunice von uns verabschiedet hatte und Lea ins Bett gegangen war, gingen Badah, Thomas und ich zu unserer Unterkunft bei Phillip. Dort gab es noch eine kleine Party. Phillip hatte seine Freunde eingeladen. Über 20 Leute drängten sich in der kleinen Wohnung, unterhielten sich erregt auf Portugiesisch, tranken Alkohol und kifften. Halt eine ganz normale Party. Nur dass wir kein Wort verstanden. Ab und zu erbarmte sich jemand mit Englischkenntnissen und fing eine Unterhaltung mit uns an. Insgesamt war es für uns eher frustrierend, gab uns aber auch Motivation, weiter die Sprache zu lernen.
Die Party ging weiter, es wurde immer später und Thomas und ich immer müder. An Schlaf war aber nicht zu denken, fand die Party doch auch auf unserem Bett statt. Gegen 3.00 Uhr war endlich Schluss, Phillip räumte auf und wir schliefen ein.