Meine Woche 17.11.2023: This is England, Kapitalismus in den USA und worüber ich mich freue

Ein vollgepackter Wochenrückblick, in dem ich mich über den Herbst freue, die Kunst meiner Mutter, die Serie This is England und Bücher von Lena Richter und Walter Moers. Politisch wird es mit einer Doku über den US-Kapitalismus, eine Video-Essay zu Wokeness und meinem Kommentar zur aktuellen Lage.

Worüber ich mich freue

Herbst

Ich liebe den Herbst, wenn die Bäume vor meinem Arbeitsfenster sich bunt verfärben, der graue Asphalt rot, braun, gelb und orange schillert, es früh dunkel und stürmisch wird. Wenn es dämmert, mache ich Feierabend, lerne noch 30 bis 45 Minuten Japanisch, trainiere eine halbe bis Dreiviertelstunde, gehe duschen, esse zu Abend und setzte mich dann nur ihm schwachen Schein einer bunten Lichterkette, die über meine Bücherregale drapiert ist, vor den Fernseher und sehe mir ein, zwei Serienfolgen oder einen Film an, während es draußen richtig dunkel wird. Einmal die Woche gehe ich im Flackern eines Teelichts in die Badewanne und höre mir eine Hörspielfolge an, während der Wind im Wald vor dem Fenster durch die Blätter rauscht. Später geht es dann in meinen Lesesessel, der Richtung Fenster ausgerichtet ist, wo ich im Beisein der heranbrechenden Nacht noch ein wenig lese.

Zweimal die Woche wird die Schwärze der Nacht vom Flutlicht des benachbarten Sportplatzes durchstoßen, wenn die Herrenmannschaft trainiert. Da werde ich manchmal etwas wehmütig beim Klang der Bälle, die durch die Luft fliegen und dem Geschrei der Männer. Denn früher habe ich da mittrainiert, bei jedem Wetter und immer gerne. Auch wenn mir das Gebrüll damals schon auf die Nerven ging. Ist jetzt schon fast zehn Jahre her, dass ich das letzte Mal Fußball gespielt habe.

Blick aus dem Fenster auf eine mit roten Blättern bedeckte Straße, dahinter ein kleiner Laubwald.

Kunst

Dieses Bild meiner Mutter ziert jetzt die Wand zwischen meiner Zimmertür und einem der Bücherregale. Sie hat es fertiggestellt, als ich gerade an meinem Elric-Artikel schrieb, und es hat mich sofort an Moorcocks Beschreibungen vom vorrückenden Chaos erinnert. Zügellose Entropie, die in schillernden Farben die Ordnung zurückdrängt.

Veranstaltungen

Ich bin notorisch reisefaul. Also, ich bin schon gerne auf Reisen, aber erst ab dem Moment der Ankunft. Die Zeit vor der Abreise ist mir so ein Graus, dass ich ewig brauche, bis ich mich dazu entscheiden kann, irgendwohin zu reisen. Das war schon vor Corona so, hat sich seitdem aber noch verstärkt. Zumal die Bahn in den letzten Jahren auch nicht zuverlässiger geworden ist.

Immerhin hat sie es an einem Oktoberdonnerstag geschafft, mich zusammen mit meiner Mutter nach Frankfurt auf die Buchmesse zu bringen. Aber wir wohnen auch nur eine Dreiviertelstunde entfernt. Meine Mutter hat sich mit befreundeten Autorinnen getroffen, ich hatte einen beruflichen Termin. Ansonsten bin ich gar nicht so ein Fan von der Messe. Einmal durchlaufen reicht mir, das Gespräch an den Verlagsständen suche ich nicht. Mir war es am Donnerstag schon zu voll, an den Besuchertagen würden mich keine zehn Einhörner dorthin bringen.

Samstags ging es dann nach vier Jahren endlich wieder auf den BuCon, wie früher, mit Ralf Steinberg und Michael Schmidt zusammen. Auch dort war es mir im Hauptsaal etwas zu voll und es fehlten die Sitzmöglichkeiten, aber insgesamt war es ein toller Tag, da ich ganz viele liebe Menschen wiedergetroffen habe, die ich viel zu lange nicht gesehen habe.

Damit war meine Reiseenergie für dieses Jahr auch verbraucht, nächstes Jahr gibt es vielleicht einen Wochenendtrip ins europäische Ausland.

Lektüre

Dies ist mein letztes Lied | Lena Richter

Über eine berührende Novelle, die zeigt, warum dieses Format in der Science Fiction besonders stark ist, und die eine tolle Mischung aus Abenteuer und moderner SF á la Becky Chambers bietet.

Hier geht es zu meiner Besprechung.

Die Insel der tausend Leuchttürme | Walter Moers

Gebundene Ausgabe von "Die Insel der Tausend Leuchttürme".

Im Vorfeld hatte ich mich über den Preis von Walter Moers’ Die Stadt der Tausend Leuchttürme aufgeregt, habe es dann aber zum Geburtstag bekommen. Würde sich der Preis eines Buches aus dem Lesespaß damit zusammensetzten, wären die 42 Euro durchaus gerechtfertigt. Denn so viel hatte ich schon lange nicht mehr mit einem Roman.

Hildegunst von Mythenmetz ist zurück. Angeregt durch seinen verstorbenen Dichtpaten Danzelot begibt er sich zur Kur auf die Insel Eydernorn, um sich im Sanatorium seine eingebildeten Krankheiten behandeln zu lassen. Nebenher lernt er das Krakenfieken, macht Bekanntschaft mit skurrilen Einheimischen, erkundet Flora und Fauna und vor allem die berühmten 111 Leuchttürme, von denen jeder ein einzigartiges und faszinierendes Mysterium ist.

Moers in Höchstform, was er hier in opulenten Beschreibungen an Fantasie einbringt, steht der Stadt der träumenden Bücher in nichts nach. Die meiste Zeit passiert gar nicht viel, Hildegungst verbringt im Prinzip einfach einen ruhigen Kuraufenthalt, aber das ist so grandios und einfallsreich geschrieben, dass ich davon gar nicht genug bekommen konnte. Zwischendurch gibt es auch immer wieder Andeutungen, dass die Hummdudel nicht sind, was sie scheinen und der pittoreske Kulisse des trägen Kurorts ein düsteres Geheimnis verbirgt, actionreich wird es daber erst im Finale auf den letzten 100 Seiten. Und das dann so richtig. Bombastische wäre noch eine Untertreibung, was hier an apokalyptischem Endzeitspektakel aufgefahren wird.

Und so gut das Finale geschrieben ist, ich glaube, der Roman hätte mir sogar noch besser gefallen, wenn Hildgunst einen gemütlichen Kuraufenthalt verbracht hätte und am Ende einfach wieder zurück aufs zamonische Festland geschippert wäre. Trotzdem für mich ein Meisterwerk der deutschsprachigen Fantasy. Auch sprachlich eine Wucht.

Tor Online

Auf Tor Online bin ich zuletzt fleißig gewesen und habe einige Artikel im Oktober veröffentlicht.

Eher spontan habe ich einen Artikel mit dem Titel Der Untergang des Hauses Usher – Die Serienwelten des Mike Flanagan verfasst, in dem ich alle Serien Flanagans vorstelle und etwas genauer auf die aktuelle eingehe.

Im Oktober ist auch die prächtige Elric-Ausgabe bei Fischer Tor erschienen, bei der ich schon etwas stolz darauf bin, das Cover ausgesucht zu haben. Der schwarze Heyne-Sammelband war in den 1990ern nach Raymond Feists Midkemia-Saga mein erstes Fantasybuch und der Beginn einer langen Leidenschaft. Kein Buch in meinen Regalen habe ich so oft gelesen, kein Fantasywerk hat mich so geprägt, wie das von Michael Moorcock. Dementsprechend ist, was eigentlich als ein Artikel geplant war, etwas eskaliert.

Im ersten Artikel geht es um Michael Moorcocks Multiversum, den Autor selbst und die verschiedenen Inkarnationen des ewigen Helden.

Der zweite Beitrag widmet sich ganz Elric (für Einseiger), die neue Ausgabe und den dort nicht enthaltenen 2023 erschienenen Roman The Citadel of forgotten Myths.

Filme

Yasujirō Ozu in zehn Werken

Bei Arte gibt es jetzt ganze 10 Filme von Yasujirō Ozu in der Mediathek. Gute Gelegenheit für mich, eine gewaltige Bildungslücke zu schließen. Als Jugendlicher habe ich mal ein, zwei von ihm gesehen. Reise nach Tokio auf jeden Fall, den anderen weiß ich nicht mehr.

Guten Morgen (お早よう)

Eine Nachbarschaftskomödie in einem Neubaugebiet, wo die Familien dicht aufeinander hocken, tratschen, sich gegenseitig helfen, spekulieren und so langsam in der Moderne ankommen. Hat ein bisschen was von Jacques Tati. Sehr witziger Film, der eigentlich ganz subtil vorgeht, aber auch einige Furzwitze macht. Der Film von 1959 kann wohl zum Spätwerk Ozus gezählt werden.

The Killer (2023)

Das ist also Finchers Schakal. Ein Profikiller, dessen Arbeit minutiös aber distanziert gezeigt wird, während er selbst aus dem Off schwafelt. Ist schon schick gefilmt, aber zur Handlung kann ich nur sagen: »I just don’t give a fuck.« Im Prinzip ist das eine sehr langsame Version von John Wick, nur ohne Hund (auch wenn ein Hund vorkommt). Ganz nett fand ich den Humor, der daraus besteht, dass der Killer erst erklärt, wie strikt er sich an seinen Plan hält, nicht improvisiert sonder antizipiert, dann aber doch alles schiefgeht. Insgesamt ist der Film ganz okay, aber (anders als bei anderen, jedoch nicht allen Fincher-Filmen) keiner, den ich mir ein zweites Mal anschauen werde.

Netflix

This is England

Packende Mischung aus Coming-of-Age und Milieustudie, die zeigt, wie schnell sich Kinder und Jugendliche radikalisieren lassen. Und wer kennt ihn nicht, den Arschloch-«Kumpel«, der die Stimmung killt, ständig für Ärger sorgt und die Clique sprengt. Erzählt wird von Shaun, der in der Schule gemobbt wird und dessen Vater im Falklandkrieg ums Leben kam. Er gerät an eine Gruppe linker Skinheads, die ihn bei sich aufnehmen, die sich aber spaltet, als einer von ihnen rechte Ideen bekommt.

Arte-Mediathek

Serien

This is England ’86, ’88, ’90

Bei Serienfortsetzungen zu richtig guten Filmen bin ich meist skeptisch, aber hier ist die Serie noch besser als der Film geworden. Es sind wieder alle mit dabei, die Figuren erhalten deutlich mehr Tiefe, es wird noch viel dramatischer und tragischer, teils richtig heftig. CN: Vergewaltigung, langjähriger Missbrauch, Gewalt, Suizid. Die Staffeln beginnen eigentlich immer recht fröhlich, als Feel-Good-Serie über Freundschaft, aber ab Mitte der jeweils zweiten Folge kippt die Stimmung, werden Risse in der Fassade sichtbar und die Staffeln werden richtig gut. Vor allem gefällt mir, dass wir hier mal eine auf hohem Niveau inszenierte Serie über die Arbeiterklasse haben.

Und die Serie wird mit jeder Staffel besser und erreicht ihren Höhepunkt in Folge 3 der dritten Staffel. Die lange Szene mit dem Mittagessen ist mit das Beste, was ich je in einer Serie gesehen habe. So gut geschrieben, so gut gespielt und atemberaubend inszeniert. Das war so intensiv, dass ich fast mittendrin abgeschaltet hätte, um erst mal Luft zu holen. Ich habe schon lange nicht mehr so mit Figuren mitgefiebert wie in dieser Serie.

Gibt es OmU in der Arte-Mediathek

Die Bestie von Bayonne

Ich kann sie eigentlich nicht mehr sehen, Bücher, Filme und Serien, in denen es um entführte, ermordete und sonst wie gestorbene Frauen und Mädchen geht. Aber diese französische Serie ist so gut gemacht, verbindet so geschickt zwei zeitlich weit voneinanderliegenden Handlungsebenen, die zu einem großen Familiendrama (damit ist nicht Gewalt von Männern gegen Frauen gemeint) führen. Serienkunst auf höchstem Niveau mit interessantem Twist. Spannend bis zuletzt.

ZDF-Mediathek

Polar Park

Noch eine französische Krimiserie. Hier kehrt ein Krimischriftsteller ins Dorf seiner Kindheit zurück, um dem Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur zu kommen, und wird dabei in eine Mordserie verwickelt, die erschreckende Bezüge zu seinen Romanen hat. Ist jetzt nicht ganz auf dem Niveau von Die Bestie von Bayonne inszeniert, aber dafür deutlich humorvoller und lockerer, mit einer tollen Atmosphäre.

Arte-Mediathek

Dokus

Kapitalismus made in USA – Reichtum als Kult

Die dreiteilige Dokumentation erklärt anschaulich, wie sich die USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter Unternehmern wie John D. Rockefeller, J. P. Morgan und Andrew Carnegie zu einem Paradies für Superreiche entwickelt haben, die sich jeglicher staatlichen Regulierung entziehen konnten; wie dieser Millionärs-Anarchismus vor und vor allem während des 2. Weltkriegs durch Präsidenten wie Franklin D. Roosevelt und Harry S Truman gezügelt, und später ab Reagan wieder von der Leine gelassen wurde. Ein Superreichtum, der es wenigen ermöglicht auf dem Rücken vieler pervers große Vermögen anzuhäufen und die Wirtschaft regelmäßig in Krisen zu stürzen.

Youtube

Who Really Made The Witcher Woke?

Von Princess Weekes gibt es einen sehr guten und differenzierten Video-Essay (thx molo) mit dem Titel Who Really Made The Witcher Woke?, in dem es um Wokeness und Diversity in aktuellen Fantasyserien geht, beispielhaft erklärt anhand der Netflix-Serie The Witcher. Weekes geht der Frage nach, wie viel Wokeness schon in der Buchvorlage von Andrzej Sapkowski steckt, wie Diversität in modernen Produktionen richtig gemacht wird und wie es falsch wirkt.

Wokeness steht übrigens für ein wachsames Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus. Das ist also eine gute Sache. Wer Wokeness ablehnt und in aktuellen Produktionen beklagt, vertritt ein rassistisches und diskriminierendes Weltbild voller Empathielosigkeit und einem mangelnden Bewusstsein für die Benachteiligung marginalisierter Gruppen und Menschen.

Und ich kann mich Weekes Aufruf nur anschließen: Statt die Werke alter, längst verstorbener weißer Männer zu verfilmen und auf Diversität zu trimmen, verfilmt doch endlich Werke, die von Anfang an divers sind.

Politik

Erschreckend finde ich die Diskursverschiebung nach rechts, die inzwischen voll in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Da werden rechte und und demokratiefeindliche Positionen – zu denen es bisher Aufschreie der Empörung gab, wenn sie von Rechtsextremen wie der AFD kamen – von den sogenannten etablierten Parteien mit Regierungsverantwortung wie selbstverständlich vertreten.

In der FDP möchte man z. B. gerne die Grundrechte für Ausländer abschaffen. Die sich anbahnende große Koalition in Hessen möchte das verbieten, was gemeinhin als Gendern bekannt ist. Also eine respektvolle und emphatische Verwendung von Sprache, die möglichst viele marginalisierte Menschen mit einbezieht und anspricht.

Und so erodiert langsam unsere Demokratie und durch die Normalisierung solcher rechter, demokratiefeindlicher Positionen durch etablierte Parteien wird auch die Wahl von rechten, demokratiefeindlichen Parteien normalisiert. Wo das hinführt, kann man gerade in Italien sehen, wo die Faschist*innen um Meloni gerade massiv die Mittel für die ärmsten der Bevölkerung streichen, die Rechte von LGBTQ+-Menschen einschränken und gleich demokratische Grundsätze bei Wahlen abschaffen wollen, indem die Gewinner einer Wahl immer 55% aller Sitze im Parlament bekommen sollen, auch wenn sie nur 18% oder so der Stimmen erhalten haben. Faschismus in the Making.

Und so bricht dieser Tage auch wieder der Antisemitismus in Form von Gewalt seine Bahn und Juden in Deutschland können sich nicht mehr sicher fühlen. Einen Grund dafür sehe ich darin, dass der Antisemitismus nie weg war. Er schwelte schon immer unter der Oberfläche, wurde aber vor allem hinter verschlossenen Türen, im kleinen Kreis, am Stammtisch usw. verstohlen geäußert, und nicht entschieden genug von uns allen bekämpft. So dass er jetzt, wo rechte bis rechtsextreme Position anscheinend wieder salonfähig sind, an die Oberfläche bricht und seine hässliche Fratze zeigt. Deutschland war schon immer ein rassistisches Land und ist es auch heute noch (wie. z. B. diese Befragung zeigt). Und es ist offenbar auch auf seinen Niedergang erpicht, anders lässt sich nicht erklären, dass trotz massivem Fachkräftemangels und einer besorgniserregenden demografischen Entwicklung Migration unter allen Umständen (auch mit Gewalt) verhindert werden soll und jene ausländischen Fachkräfte, die schon vor Ort sind, durch unfreundliches, rassistisches und ausländerfeindliches Verhalten wieder davongejagt werden. Ich kann auch nur jedem aus dem Ausland davon abraten, nach Deutschland zu ziehen.

Was den Gaza-Krieg angeht, verweise ich auf den Artikel von Navid Kermani bei Zeit Online. Kermani ist natürlich auch entsetzt über die zivilen Opfer der israelischen Bombardierungen, vor allem aber über die kaltherzigen Reaktionen auf den Schmerz der Juden über das Massaker vom 7. Oktober, die es von Seiten der Pro-Palästina-Bewegung gibt.

Dass Juden nicht toleriert werden, selbst wenn sie sich mit Palästinensern solidarisieren, ist das Gegenteil von Menschlichkeit, nämlich Antisemitismus in seiner radikalsten Form.

Ein insgesamt sehr lesenswerter Text, der meine Position so ziemlich widerspiegelt, ohne dass ich das je so gut in Worte fassen könnte.

Kleiner Filmtipp (Underdogs): Dawg Fight

Dawg Fight ist eine Dokumentation über Hinterhofkämpfe im zu Dade County gehörenden Viertel West Perrine in Florida. Ein Viertel, in dem große Armut herrscht und 73 Prozent der Bewohner Afroamerikaner sind. Und für diese Bewohner organisiert der MMA(Mixed-Martial-Arts)-Kämpfer Dada 5000 illegale Hinterhofkämpfe zwischen mal mehr, mal weniger durchtrainierten Männern aus dem Viertel. Es gibt einen improvisierten Ring, Dada als Ringrichter und nur wenige Regeln. Gekämpft wird »bare-knuckled«, also ohne Handschuhe. Dabei geht es ganz schön brutal zur Sache und kommt immer wieder zu ernsthaften Verletzungen. Der Begriff »backyard-brawl« passt wohl am besten, da es sich oft um wilde Raufereien unprofessioneller Kämpfer handelt. Die Untrainierten verletzen sich an der Hand, weil sie nicht wissen, wie man richtig zuschlägt, oder sie erleiden heftige Kopfverletzungen, da eben ohne Handschuhe gekämpft wird.

Dada versteht die Organisation dieser Kämpfe als »community work«, also praktisch als Sozialarbeit in seinem Viertel. Er gebe den Kämpfern einen Grund auf Hoffnung, ein Ziel, etwas, woran sie glauben können. Der Traum: als professioneller MMA-Kämpfer Geld verdienen. Und einige schaffen das tatsächlich. An dieser Stelle möchte ich noch erwähnen, dass ich (obwohl Kampfsportfan) kein großer Fan von MMA-Kämpfen bin, diese aber für weniger gefährlich halte, was schwere Verletzungen angeht, als Boxen, was von einigen Studien auch bestätigt wird. Auch wenn es nicht so aussieht, sind die Handschuhe beim MMA besser gepolstert als beim Boxen, und da häufig Hebel und Klammergriffe angewendet werden, gibt es nicht so viele direkte Treffer auf den Kopf. Auch wenn es brutaler aussieht, als beim Boxen.

Aber was da auf den Hinterhöfen stattfindet, ist brutal, illegal und unsicher. Es gibt keinen Ringarzt, und wenn jemand dabei stirbt, kommt auch der Veranstalter wegen Mordes ins Gefängnis. Wer eine Karriere als professioneller MMA-Kämpfer machen will, darf sich nicht bei solchen Hinterhofkämpfen erwischen lassen, da er sonst seine Lizenz verliert.

Ich hätte mir von dem Film gewünscht, dass er etwas mehr auf die Biografien und Lebensumstände der einzelnen Kämpfer eingeht. Stattdessen wird viel Zeit auf eine martialische und (dank der Musikuntermalung) pompöse Inszenierung der Kämpfe gelegt. Dada meint, auf diese Art könnten diese jungen Männer ihre Aggressionen und ihren Ärger in den Ring tragen und dort loswerden. Eine aggressive Stimmung herrscht auch beim Publikum, wenn da ältere Damen und kleine Kinder blutdürstig danach rufen, dass ihr Favorit seinen Gegner alle machen solle.

Die Polizei lässt die Kämpfe übrigens laufen, da es, wenn Dada wieder was organisiert, weniger Ärger auf der Straße gebe. Das war zumindest 2009 so, als der Film gedreht wurde, inzwischen soll sich das geändert haben, wie Regisseur Billy Corbern in einem sehr interessanten Interview auf Rollingstone.com erzählt. Der Film hat auch sehr lange keinen Verleih gefunden, bis sich Netflix in diesem Jahr erbarmt hat.

Trotz der teils martialischen Inszenierung und der grafisch stilisierten Gewalt, liefert der Film einen interessanten Einblick in eine Parallelwelt am Rande der Gesellschaft, in der Menschen, die teils auf der Strecke geblieben sind, ihre Hoffnung in eine gefährliche Tätigkeit stecken.

Einer der Kämpfer (der Publikumsliebling) wurde zur Zeit der Dreharbeiten übrigens erschossen, was aber nichts mit den Kämpfen zu tun hatte. Ein weiterer starb kurz nach den Dreharbeiten während einer Verhaftung, als die Polizei mit Pfefferspray und Tasern gegen ihn vorging.

Linktipps: Außenseiter und Underdogs (1)

Ist ja ein Thema, das mich aktuell sehr beschäftigt.

Drawn and Cornered: A young artist hustles her way through New York City – Auf der Homepage von New Republic gibt es jetzt einen Auszug aus Drawing Blood zu lesen, der im Dezember erscheinenden Autobiografie der Künstlerin Molly Crabapple. In dem Auszug geht es darum, wie sie sich als Nacktmodel für zwielichtige Gestalten ihr Studium an einer beschissenen Kunstschule finanziert hat. Liest sich sehr gut und macht mich richtig neugierig auf ihr Buch.

Roger Ballen – Roger Ballen ist bekannt für seine atmosphärisch dichten Fotografien von Menschen, die als gesellschaftliche Außenseiter gesehen werden, sei es aus optischen Gründen oder aus sozialen. Auf Spiegelonline gibt es ein interessantes Interview mit dem seit den 70er Jahren in Südafrika lebenden promovierten Geologen aus Amerika. Mir sind seine Arbeiten zwar schon seit Jahren ein Begriff, aber so richtig darauf aufmerksam geworden bin ich erst kürzlich durch sein tolles Video zu I Fink U Freaky von der südafrikanischen Rap/Rave-Band Die Antwoord.

Suicidegirls.com – Ist eine 2001 von der Fotografin Missy Suicide gegründete Internetseite, auf der Frauen, die nicht so ganz unter das klassische Mainstream-Schönheitsideal fallen und eher zur alternativen Kultur gehören, sich selbst und Fotos von sich präsentieren. Dazu gibt es aber auch Interviews und Artikel. Die Burlesque Show der Suicide Girls war kürzlich bei George R. R. Martin im Jean Cocteau Kino in Santa Fe zu Gast. Dazu gibt auf seinem Blog ein ausführliches Interview mit Missy Suicide.  Im Video zu Shake Your Blood von Probot kann man einige der Suicide Girls bewundern. Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass sich der Name Suicide Girls, wie im Interview erklärt, auf Social Suicide bezieht, also auf eine Aktion, durch die man sich selbst praktisch aus der Gesellschaft oder dem „normalen“ Gesellschaftsleben ausschließt.