Meine Woche 28.01.2023: Tätowierte Helden, Schöpfer und Außenseiter

Meine Woche in Filmen, Dokus, Artikeln und Youtube-Videos. Neo-Noir in Shanghai, Tätowierungen in Japan, Coppolas The Outsiders, Edwards The Creator und die Frage, ob SF-Autor*innen heute weniger subtil schreiben

Collage aus vier Screenshots. Oben drei kleine quadratische in eine Reihe, unten ein großes rechteckiges: Von oben links nach rechts bis unten: Das Kind aus "The Creator" lächelnd, eine Horimono-Tätowierung über einen gesamten Rücken, Ralf Macchio in "The Outsiders" und die beiden Hauptfiguren aus "Suzhou River" mit Helmen ohne Visier auf einem Motorrad im Seitenprofil.

Die letzten beiden Wochen haben mich überrascht. Vor allem, wie viele Menschen an so vielen Orten gegen die AFD und den Rechtsruck in diesem Land auf die Straße gegangen sind. Bisher war mein Eindruck, dass ein Großteil der Bevölkerung tatsächlich wie „Schlafschafe“ durch das zunehmende Erodieren der Demokratie schlurfen. Ich hoffe, dass das Momentum anhält und eine breite Bürgerbewegung gegen Rechtsextremismus entsteht. Ein Rechtsextremismus, der sich nicht nur in den offensichtlich rechtsradikalen Parteien zeigt, sondern auch tief in Volksparteien wie der CDU verwurzelt ist (siehe z. B. die Umtriebe des ehemaligen Berliner Finanzsenators, von der sogenannten Werteunion ganz zu schweigen).

Youtube

Do SFF Authors Think We Are Stupid Now

Unter dem etwas reißerischen Titel Do SFF Authors Think We Are Stupid Now verbirgt sich ein differenzierter Videoessay zur Frage, ob Phantastikautor*innen heutzutage weniger subtil und mehr mit dem Holzhammer schreiben als früher. Dabei ist zu erwähnen, dass Bookborn nicht die Inhalte der hier erwähnten Bücher kritisiert (ist also kein Anti-Woke-Beitrag), sondern, wie sie vermittelt werden. Interessant finde ich die Theorie, dass es daran liegen könnte, dass so viele Leser*innen im Internet ihre Meinung äußern und die Autor*innen kein Risiko eingehen wollen, missverstanden oder auf eine Weise interpretiert zu werden, die ihnen missfällt. Von den hier erwähnten Büchern habe ich The Calculating Stars gelesen und mochte es. Der Argumentation, es sei wenig subtil habe ich aber nichts entgegenzusetzen. Ob das gut oder schlecht ist, lasse ich mal offen.

Artikel

Es zählt nur die Qualität – Über ein fadenscheiniges Argument

Wieder und wieder dieselbe Formulierung, da kommt man um die Schlussfolgerung kaum herum, dass hier wohl tatsächlich jemand glaubt, Männer schrieben die besseren Bücher. Das einzige Problem: Man darf es nicht mehr sagen.

Nicoele Seifert

Sehr interessanter Artikel von Nicole Seifert bei 54Books, in dem sie das Nur-die-Qualität-zählt-Argument in der Kultur fundiert auseinandernimmt.

Doku

Japans tätowierte Helden

Wer sich schon mal ein wenig mit Japan beschäftigt hat, weiß, dass Tätowierungen dort gesellschaftlich verpönt sind (im öffentlichen Bad, dem Onsen, sind sie meist verboten), da sie meist mit der organisierten Kriminalität, also der Yakuza assoziiert werden. Das war aber nicht immer so. Während der Edo-Periode waren die Horimono-Tätowierung weit verbreitet, vor allem unter den Feuerwehrleuten, die sich heldenhaft dem feurigen Inferno gestellt haben. Horimono haben feste Motive, die bestimmte Geschichten von mythischen Helden erzählen. Heute werden sie vor allem von den Tobi getragen, den Gerüstbauern. Die Doku zeigt einige von ihnen, wie sie tätowiert werden, aber auch wie sie organisiert sind und einmal im Jahr offen auf der Straße bei einem Festumzug ihre Kunstwerke präsentieren. So langsam scheint es ein Umdenken zu geben, was das Ansehen solcher Tätowierungen gibt.

Arte-Mediathek

Blog

Auf meinem Blog habe ich noch das japanische Gruselmeisterwerk Kwaidan besprochen.

Tor Online

Lena Richter ist in ihrem Artikel Noch ein Zwergenbier? Der allgegenwärtige Alkohol in der Phantastik der Frage nachgegangen, warum Alkohol in der Phantastik eine so große Rolle spielt und ob es nicht anders geht.

Und in meinen SFF News geht es um einen neuen Indiana Jones, Ungereimtheiten bei den Hugo Awards und Denis Schecks Empfehlung des historischen Retro-SF-Roman Der eiserne Marquis, der sich superinteressant anhört, mir mit 36 Euro aber auch etwas zu teuer ist.

Film

The Outsiders – The Complete Novel

Nachdem 1967 der Roman der damals erst 19 Jahre alten Susan E. Hinton erschien, dachten sich einige Kinder und Jugendliche, dass würde doch einen tollen Film abgeben, und deren Bibliothekarin schrieb das so Francis Ford Coppola, der sich wiederum dachte, ja super Idee, mach ich, und zwar mit Patrick Swayze, Tom Cruise, Rob Low, Emilio Estevez, Matt Dillon, Diane Lane, Flea und Tom Waits, aber die Hauptrollen, die Spielen C. Thomas Howell und Ralph Macchio.

Im Prinzip ist es die klassische amerikanische Außenseitergeschichte, von sozial und finanziell benachteiligten Jugendlichen, die von der Gesellschaft als ausgegrenzt werden und sich damit dann identifizieren.

Robert Ebert beschwerte sich, Coppola habe sich zu sehr darauf konzentriert, Szenen wie Gemälde zu inszenieren, statt den Figuren Raum zu geben. Ich vermute mal, dass sich das auf die gekürzte Fassung bezieht. Manche Szenen vor dem Sonnenuntergang sehen aber wirklich sehr künstlich nach Studio aus, wenn auch schön.

The Outsiders ist ein guter, aber kein sehr guter Film, der auch für das Jahr 1983 keine wirklich neue Geschichte erzählt, aber einen guten Fokus auf die Familiendynamik der drei Brüder legt, deren Eltern verstorben sind.

Der Film erschien ursprünglich in einer vom Studio stark gekürzten 90-minütigen Fassung, 2005 dann endlich die komplette mit 113 Min., in Deutschland aber erst 2023.

Paramount+

Suzhou River (Suzhou He)

Suzhou River aus dem Jahr 2000 ist ein Neo-Noir-Film, der in einem industriellen Randgebiet von Shanghai spielt, das nichts mit der Hochglanzmetropole zu tun hat, die wir heute kennen. Rauchende Schlote, bröckelnde Fassaden, abbruchreife Häuser, ein verschmutzter Fluss und Menschen, die ums Überleben kämpfen. Es geht um einen Kleinganoven, der Jahre nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nach jenem Mädchen sucht, das einst auf der Flucht vor ihm in den Fluss sprang, und der nun eine Frau kennenlernt, die als Meerjungfrau arbeitet und der Gesuchten sehr ähnlich sieht.

Erinnert von der Atmosphäre her an eine Mischung aus Wong-Kar Wei und Jia Zhangke. Wer Probleme mit Wackeldackelkameras hat, ist hier aber im falschen Film, den die Kamera wackelt praktisch von Anfang bis Ende, da oft eine Egoperspektive eingenommen wird, was durchaus interessant ist, aber es schwer macht, die Untertitel zu lesen.

Suzhou River ist ein chinesischer Film, wurde aber von einigen öffentlich-rechtlichen Sendern mitproduziert und die Postproduktion hat in Babelsberg stattgefunden.

Mubi

The Creator

Die Welt, in der The Creator spielt, finde ich superinteressant, visuell ist der Film beeindruckend, vor allem mit dem Wissen, wie und wo er gedreht wurde, nämlich vor Ort, mit kleiner Crew, nicht auf der Live Stage. Inhaltlich fand ich ihn allerdings ziemlich schwach, da er fast komplett nach demselben lahmen Schema abläuft: Kampf, Flucht, Kampf, Flucht, Kampf, Flucht, Kampf, Flucht; Gefangenschaft, damit sie auch in die Nähe des zu zerstörenden Objekts kommen; Flucht zum Objekt, etwas Drama, Explosion, Zerstörung der Superwaffe, Hurra.

Es gibt durchaus spannende Ansätze, was moralisch, ethische und philosophische Fragen angeht und einige gute Einfälle, wie die laufenden Bomben, die gehen aber in dem ganzen Getöse unter. Hinzu kommt ein uncharismatischer Hauptdarsteller und zu viel Kitsch im Finale.

Regisseur Gareth Edwards’ Debütfilm Monster habe ich 2010 auf dem Fantasy Filmfest gesehen und war schwer beeindruckt von der Atmosphäre des Films, mit den großen Monstern, die aber nicht zu Spektakel führten. Nachdem Film stand Edwards auf der Bühne und erzählte, wie mit kleinen Kameras vor Ort gefilmt wurde, und er die Spezialeffekte bei sich zu Hause mit Adobe an einem normalen Rechner eingefügt habe. Nach Blockbustern wie Star Wars: Rogue One und Godzilla ist The Creator eine Rückkehr zu diesen Wurzeln, aber leider mit übergestülpten Hollywood-Konvention, die vermutlich für die Finanzierung notwendig waren. Über gewisse Logikfragen, wie ob es in New Asia keine Luftabwehrraketen gibt, möchte ich gar nicht weiter nachdenken.

Ein inhaltlich schwacher und zusammengestückelter Film, der umwerfend aussieht, sein Potenzial aber nicht ausnutzen kann. Ich würde total gerne eine Serie in dieser Welt sehen, in der es nur darum geht, wie Menschen und KIs miteinander leben, ohne Krachbumm.

Disney+

Daneben habe ich noch den elegant gefilmten und spannend inszenierten Thriller Catch the Killer gesehen und den wendungsreichen südkoreanischen Geiselverhandlungsthriller The Negotiation.

Meine Woche 17.11.2023: This is England, Kapitalismus in den USA und worüber ich mich freue

Ein vollgepackter Wochenrückblick, in dem ich mich über den Herbst freue, die Kunst meiner Mutter, die Serie This is England und Bücher von Lena Richter und Walter Moers. Politisch wird es mit einer Doku über den US-Kapitalismus, eine Video-Essay zu Wokeness und meinem Kommentar zur aktuellen Lage.

Worüber ich mich freue

Herbst

Ich liebe den Herbst, wenn die Bäume vor meinem Arbeitsfenster sich bunt verfärben, der graue Asphalt rot, braun, gelb und orange schillert, es früh dunkel und stürmisch wird. Wenn es dämmert, mache ich Feierabend, lerne noch 30 bis 45 Minuten Japanisch, trainiere eine halbe bis Dreiviertelstunde, gehe duschen, esse zu Abend und setzte mich dann nur ihm schwachen Schein einer bunten Lichterkette, die über meine Bücherregale drapiert ist, vor den Fernseher und sehe mir ein, zwei Serienfolgen oder einen Film an, während es draußen richtig dunkel wird. Einmal die Woche gehe ich im Flackern eines Teelichts in die Badewanne und höre mir eine Hörspielfolge an, während der Wind im Wald vor dem Fenster durch die Blätter rauscht. Später geht es dann in meinen Lesesessel, der Richtung Fenster ausgerichtet ist, wo ich im Beisein der heranbrechenden Nacht noch ein wenig lese.

Zweimal die Woche wird die Schwärze der Nacht vom Flutlicht des benachbarten Sportplatzes durchstoßen, wenn die Herrenmannschaft trainiert. Da werde ich manchmal etwas wehmütig beim Klang der Bälle, die durch die Luft fliegen und dem Geschrei der Männer. Denn früher habe ich da mittrainiert, bei jedem Wetter und immer gerne. Auch wenn mir das Gebrüll damals schon auf die Nerven ging. Ist jetzt schon fast zehn Jahre her, dass ich das letzte Mal Fußball gespielt habe.

Blick aus dem Fenster auf eine mit roten Blättern bedeckte Straße, dahinter ein kleiner Laubwald.

Kunst

Dieses Bild meiner Mutter ziert jetzt die Wand zwischen meiner Zimmertür und einem der Bücherregale. Sie hat es fertiggestellt, als ich gerade an meinem Elric-Artikel schrieb, und es hat mich sofort an Moorcocks Beschreibungen vom vorrückenden Chaos erinnert. Zügellose Entropie, die in schillernden Farben die Ordnung zurückdrängt.

Veranstaltungen

Ich bin notorisch reisefaul. Also, ich bin schon gerne auf Reisen, aber erst ab dem Moment der Ankunft. Die Zeit vor der Abreise ist mir so ein Graus, dass ich ewig brauche, bis ich mich dazu entscheiden kann, irgendwohin zu reisen. Das war schon vor Corona so, hat sich seitdem aber noch verstärkt. Zumal die Bahn in den letzten Jahren auch nicht zuverlässiger geworden ist.

Immerhin hat sie es an einem Oktoberdonnerstag geschafft, mich zusammen mit meiner Mutter nach Frankfurt auf die Buchmesse zu bringen. Aber wir wohnen auch nur eine Dreiviertelstunde entfernt. Meine Mutter hat sich mit befreundeten Autorinnen getroffen, ich hatte einen beruflichen Termin. Ansonsten bin ich gar nicht so ein Fan von der Messe. Einmal durchlaufen reicht mir, das Gespräch an den Verlagsständen suche ich nicht. Mir war es am Donnerstag schon zu voll, an den Besuchertagen würden mich keine zehn Einhörner dorthin bringen.

Samstags ging es dann nach vier Jahren endlich wieder auf den BuCon, wie früher, mit Ralf Steinberg und Michael Schmidt zusammen. Auch dort war es mir im Hauptsaal etwas zu voll und es fehlten die Sitzmöglichkeiten, aber insgesamt war es ein toller Tag, da ich ganz viele liebe Menschen wiedergetroffen habe, die ich viel zu lange nicht gesehen habe.

Damit war meine Reiseenergie für dieses Jahr auch verbraucht, nächstes Jahr gibt es vielleicht einen Wochenendtrip ins europäische Ausland.

Lektüre

Dies ist mein letztes Lied | Lena Richter

Über eine berührende Novelle, die zeigt, warum dieses Format in der Science Fiction besonders stark ist, und die eine tolle Mischung aus Abenteuer und moderner SF á la Becky Chambers bietet.

Hier geht es zu meiner Besprechung.

Die Insel der tausend Leuchttürme | Walter Moers

Gebundene Ausgabe von "Die Insel der Tausend Leuchttürme".

Im Vorfeld hatte ich mich über den Preis von Walter Moers’ Die Stadt der Tausend Leuchttürme aufgeregt, habe es dann aber zum Geburtstag bekommen. Würde sich der Preis eines Buches aus dem Lesespaß damit zusammensetzten, wären die 42 Euro durchaus gerechtfertigt. Denn so viel hatte ich schon lange nicht mehr mit einem Roman.

Hildegunst von Mythenmetz ist zurück. Angeregt durch seinen verstorbenen Dichtpaten Danzelot begibt er sich zur Kur auf die Insel Eydernorn, um sich im Sanatorium seine eingebildeten Krankheiten behandeln zu lassen. Nebenher lernt er das Krakenfieken, macht Bekanntschaft mit skurrilen Einheimischen, erkundet Flora und Fauna und vor allem die berühmten 111 Leuchttürme, von denen jeder ein einzigartiges und faszinierendes Mysterium ist.

Moers in Höchstform, was er hier in opulenten Beschreibungen an Fantasie einbringt, steht der Stadt der träumenden Bücher in nichts nach. Die meiste Zeit passiert gar nicht viel, Hildegungst verbringt im Prinzip einfach einen ruhigen Kuraufenthalt, aber das ist so grandios und einfallsreich geschrieben, dass ich davon gar nicht genug bekommen konnte. Zwischendurch gibt es auch immer wieder Andeutungen, dass die Hummdudel nicht sind, was sie scheinen und der pittoreske Kulisse des trägen Kurorts ein düsteres Geheimnis verbirgt, actionreich wird es daber erst im Finale auf den letzten 100 Seiten. Und das dann so richtig. Bombastische wäre noch eine Untertreibung, was hier an apokalyptischem Endzeitspektakel aufgefahren wird.

Und so gut das Finale geschrieben ist, ich glaube, der Roman hätte mir sogar noch besser gefallen, wenn Hildgunst einen gemütlichen Kuraufenthalt verbracht hätte und am Ende einfach wieder zurück aufs zamonische Festland geschippert wäre. Trotzdem für mich ein Meisterwerk der deutschsprachigen Fantasy. Auch sprachlich eine Wucht.

Tor Online

Auf Tor Online bin ich zuletzt fleißig gewesen und habe einige Artikel im Oktober veröffentlicht.

Eher spontan habe ich einen Artikel mit dem Titel Der Untergang des Hauses Usher – Die Serienwelten des Mike Flanagan verfasst, in dem ich alle Serien Flanagans vorstelle und etwas genauer auf die aktuelle eingehe.

Im Oktober ist auch die prächtige Elric-Ausgabe bei Fischer Tor erschienen, bei der ich schon etwas stolz darauf bin, das Cover ausgesucht zu haben. Der schwarze Heyne-Sammelband war in den 1990ern nach Raymond Feists Midkemia-Saga mein erstes Fantasybuch und der Beginn einer langen Leidenschaft. Kein Buch in meinen Regalen habe ich so oft gelesen, kein Fantasywerk hat mich so geprägt, wie das von Michael Moorcock. Dementsprechend ist, was eigentlich als ein Artikel geplant war, etwas eskaliert.

Im ersten Artikel geht es um Michael Moorcocks Multiversum, den Autor selbst und die verschiedenen Inkarnationen des ewigen Helden.

Der zweite Beitrag widmet sich ganz Elric (für Einseiger), die neue Ausgabe und den dort nicht enthaltenen 2023 erschienenen Roman The Citadel of forgotten Myths.

Filme

Yasujirō Ozu in zehn Werken

Bei Arte gibt es jetzt ganze 10 Filme von Yasujirō Ozu in der Mediathek. Gute Gelegenheit für mich, eine gewaltige Bildungslücke zu schließen. Als Jugendlicher habe ich mal ein, zwei von ihm gesehen. Reise nach Tokio auf jeden Fall, den anderen weiß ich nicht mehr.

Guten Morgen (お早よう)

Eine Nachbarschaftskomödie in einem Neubaugebiet, wo die Familien dicht aufeinander hocken, tratschen, sich gegenseitig helfen, spekulieren und so langsam in der Moderne ankommen. Hat ein bisschen was von Jacques Tati. Sehr witziger Film, der eigentlich ganz subtil vorgeht, aber auch einige Furzwitze macht. Der Film von 1959 kann wohl zum Spätwerk Ozus gezählt werden.

The Killer (2023)

Das ist also Finchers Schakal. Ein Profikiller, dessen Arbeit minutiös aber distanziert gezeigt wird, während er selbst aus dem Off schwafelt. Ist schon schick gefilmt, aber zur Handlung kann ich nur sagen: »I just don’t give a fuck.« Im Prinzip ist das eine sehr langsame Version von John Wick, nur ohne Hund (auch wenn ein Hund vorkommt). Ganz nett fand ich den Humor, der daraus besteht, dass der Killer erst erklärt, wie strikt er sich an seinen Plan hält, nicht improvisiert sonder antizipiert, dann aber doch alles schiefgeht. Insgesamt ist der Film ganz okay, aber (anders als bei anderen, jedoch nicht allen Fincher-Filmen) keiner, den ich mir ein zweites Mal anschauen werde.

Netflix

This is England

Packende Mischung aus Coming-of-Age und Milieustudie, die zeigt, wie schnell sich Kinder und Jugendliche radikalisieren lassen. Und wer kennt ihn nicht, den Arschloch-«Kumpel«, der die Stimmung killt, ständig für Ärger sorgt und die Clique sprengt. Erzählt wird von Shaun, der in der Schule gemobbt wird und dessen Vater im Falklandkrieg ums Leben kam. Er gerät an eine Gruppe linker Skinheads, die ihn bei sich aufnehmen, die sich aber spaltet, als einer von ihnen rechte Ideen bekommt.

Arte-Mediathek

Serien

This is England ’86, ’88, ’90

Bei Serienfortsetzungen zu richtig guten Filmen bin ich meist skeptisch, aber hier ist die Serie noch besser als der Film geworden. Es sind wieder alle mit dabei, die Figuren erhalten deutlich mehr Tiefe, es wird noch viel dramatischer und tragischer, teils richtig heftig. CN: Vergewaltigung, langjähriger Missbrauch, Gewalt, Suizid. Die Staffeln beginnen eigentlich immer recht fröhlich, als Feel-Good-Serie über Freundschaft, aber ab Mitte der jeweils zweiten Folge kippt die Stimmung, werden Risse in der Fassade sichtbar und die Staffeln werden richtig gut. Vor allem gefällt mir, dass wir hier mal eine auf hohem Niveau inszenierte Serie über die Arbeiterklasse haben.

Und die Serie wird mit jeder Staffel besser und erreicht ihren Höhepunkt in Folge 3 der dritten Staffel. Die lange Szene mit dem Mittagessen ist mit das Beste, was ich je in einer Serie gesehen habe. So gut geschrieben, so gut gespielt und atemberaubend inszeniert. Das war so intensiv, dass ich fast mittendrin abgeschaltet hätte, um erst mal Luft zu holen. Ich habe schon lange nicht mehr so mit Figuren mitgefiebert wie in dieser Serie.

Gibt es OmU in der Arte-Mediathek

Die Bestie von Bayonne

Ich kann sie eigentlich nicht mehr sehen, Bücher, Filme und Serien, in denen es um entführte, ermordete und sonst wie gestorbene Frauen und Mädchen geht. Aber diese französische Serie ist so gut gemacht, verbindet so geschickt zwei zeitlich weit voneinanderliegenden Handlungsebenen, die zu einem großen Familiendrama (damit ist nicht Gewalt von Männern gegen Frauen gemeint) führen. Serienkunst auf höchstem Niveau mit interessantem Twist. Spannend bis zuletzt.

ZDF-Mediathek

Polar Park

Noch eine französische Krimiserie. Hier kehrt ein Krimischriftsteller ins Dorf seiner Kindheit zurück, um dem Geheimnis seiner Herkunft auf die Spur zu kommen, und wird dabei in eine Mordserie verwickelt, die erschreckende Bezüge zu seinen Romanen hat. Ist jetzt nicht ganz auf dem Niveau von Die Bestie von Bayonne inszeniert, aber dafür deutlich humorvoller und lockerer, mit einer tollen Atmosphäre.

Arte-Mediathek

Dokus

Kapitalismus made in USA – Reichtum als Kult

Die dreiteilige Dokumentation erklärt anschaulich, wie sich die USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter Unternehmern wie John D. Rockefeller, J. P. Morgan und Andrew Carnegie zu einem Paradies für Superreiche entwickelt haben, die sich jeglicher staatlichen Regulierung entziehen konnten; wie dieser Millionärs-Anarchismus vor und vor allem während des 2. Weltkriegs durch Präsidenten wie Franklin D. Roosevelt und Harry S Truman gezügelt, und später ab Reagan wieder von der Leine gelassen wurde. Ein Superreichtum, der es wenigen ermöglicht auf dem Rücken vieler pervers große Vermögen anzuhäufen und die Wirtschaft regelmäßig in Krisen zu stürzen.

Youtube

Who Really Made The Witcher Woke?

Von Princess Weekes gibt es einen sehr guten und differenzierten Video-Essay (thx molo) mit dem Titel Who Really Made The Witcher Woke?, in dem es um Wokeness und Diversity in aktuellen Fantasyserien geht, beispielhaft erklärt anhand der Netflix-Serie The Witcher. Weekes geht der Frage nach, wie viel Wokeness schon in der Buchvorlage von Andrzej Sapkowski steckt, wie Diversität in modernen Produktionen richtig gemacht wird und wie es falsch wirkt.

Wokeness steht übrigens für ein wachsames Bewusstsein für mangelnde soziale Gerechtigkeit und Rassismus. Das ist also eine gute Sache. Wer Wokeness ablehnt und in aktuellen Produktionen beklagt, vertritt ein rassistisches und diskriminierendes Weltbild voller Empathielosigkeit und einem mangelnden Bewusstsein für die Benachteiligung marginalisierter Gruppen und Menschen.

Und ich kann mich Weekes Aufruf nur anschließen: Statt die Werke alter, längst verstorbener weißer Männer zu verfilmen und auf Diversität zu trimmen, verfilmt doch endlich Werke, die von Anfang an divers sind.

Politik

Erschreckend finde ich die Diskursverschiebung nach rechts, die inzwischen voll in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Da werden rechte und und demokratiefeindliche Positionen – zu denen es bisher Aufschreie der Empörung gab, wenn sie von Rechtsextremen wie der AFD kamen – von den sogenannten etablierten Parteien mit Regierungsverantwortung wie selbstverständlich vertreten.

In der FDP möchte man z. B. gerne die Grundrechte für Ausländer abschaffen. Die sich anbahnende große Koalition in Hessen möchte das verbieten, was gemeinhin als Gendern bekannt ist. Also eine respektvolle und emphatische Verwendung von Sprache, die möglichst viele marginalisierte Menschen mit einbezieht und anspricht.

Und so erodiert langsam unsere Demokratie und durch die Normalisierung solcher rechter, demokratiefeindlicher Positionen durch etablierte Parteien wird auch die Wahl von rechten, demokratiefeindlichen Parteien normalisiert. Wo das hinführt, kann man gerade in Italien sehen, wo die Faschist*innen um Meloni gerade massiv die Mittel für die ärmsten der Bevölkerung streichen, die Rechte von LGBTQ+-Menschen einschränken und gleich demokratische Grundsätze bei Wahlen abschaffen wollen, indem die Gewinner einer Wahl immer 55% aller Sitze im Parlament bekommen sollen, auch wenn sie nur 18% oder so der Stimmen erhalten haben. Faschismus in the Making.

Und so bricht dieser Tage auch wieder der Antisemitismus in Form von Gewalt seine Bahn und Juden in Deutschland können sich nicht mehr sicher fühlen. Einen Grund dafür sehe ich darin, dass der Antisemitismus nie weg war. Er schwelte schon immer unter der Oberfläche, wurde aber vor allem hinter verschlossenen Türen, im kleinen Kreis, am Stammtisch usw. verstohlen geäußert, und nicht entschieden genug von uns allen bekämpft. So dass er jetzt, wo rechte bis rechtsextreme Position anscheinend wieder salonfähig sind, an die Oberfläche bricht und seine hässliche Fratze zeigt. Deutschland war schon immer ein rassistisches Land und ist es auch heute noch (wie. z. B. diese Befragung zeigt). Und es ist offenbar auch auf seinen Niedergang erpicht, anders lässt sich nicht erklären, dass trotz massivem Fachkräftemangels und einer besorgniserregenden demografischen Entwicklung Migration unter allen Umständen (auch mit Gewalt) verhindert werden soll und jene ausländischen Fachkräfte, die schon vor Ort sind, durch unfreundliches, rassistisches und ausländerfeindliches Verhalten wieder davongejagt werden. Ich kann auch nur jedem aus dem Ausland davon abraten, nach Deutschland zu ziehen.

Was den Gaza-Krieg angeht, verweise ich auf den Artikel von Navid Kermani bei Zeit Online. Kermani ist natürlich auch entsetzt über die zivilen Opfer der israelischen Bombardierungen, vor allem aber über die kaltherzigen Reaktionen auf den Schmerz der Juden über das Massaker vom 7. Oktober, die es von Seiten der Pro-Palästina-Bewegung gibt.

Dass Juden nicht toleriert werden, selbst wenn sie sich mit Palästinensern solidarisieren, ist das Gegenteil von Menschlichkeit, nämlich Antisemitismus in seiner radikalsten Form.

Ein insgesamt sehr lesenswerter Text, der meine Position so ziemlich widerspiegelt, ohne dass ich das je so gut in Worte fassen könnte.

Gegenrede: Fantasy ist phantasievoller und vielseitiger denn je

Vor einigen Wochen habe ich mich gefragt, wo mein Sense of Wonder beim Lesen von (vor allem) phantastischer Literatur, insbesondere der Fantasy, hin ist. Warum ich mich während der Lektüre nicht mehr ganz so für die Geschichte begeistern kann, wie früher? Warum mir die Immersion nicht mehr so gut gelingt, das Kopfkino fader ausfällt? Im Prinzip also, warum mir die Fantasy früher besser gefallen hat bzw. ich mehr Spaß mit ihr hatte?

Gesamtausgabe von "Erdsee" auf einem Esstisch stehend.

Aber so ganz kann das gar nicht stimmen. Zumindest steckt hier ein Paradoxon drin, denn die Fantasy, die ich früher gelesen habe, die mich geprägt und begeistert hat, ist doch eine ziemlich einseitige Angelegenheit: Sie wurde zu 80% von weißen Männern aus England, den USA und Deutschland geschrieben und findet zu 90% in Settings statt, die ans europäische Mittelalter angelehnt ist. Die Ausnahme heißt Ursula K. Le Guin – zumindest in meinen Bücherregalen.

Dabei gab es auch schon vor Jahrzehnten Autor*innen of Color: Samuel R. Delany, Charles Robert Saunders, Octavia Butler … Aber ich habe sie erst sehr viel später entdeckt, und wirklich viele, die veröffentlicht wurden und bei uns in Deutschland dann auch erhältlich waren, sind es nicht gewesen.

Heute sieht das anders aus, vor allem auf dem englischsprachigen Markt. Da hat es in den letzten Jahren geradezu eine Explosion an diversen Autor*innen gegeben (of Color, aber auch non-binärer und trans Autor*innen), die Fantasy (und Science Fiction) in phantastischen, vielseitigen Settings schreiben, die nicht eurozentrisch und altbacken sind. In Deutschland hängt diese Entwicklung knapp zehn Jahre hinterher.

E-Book-Cover von "Babel"

Und genau diese Autor*innen sind es, die mich heute am meisten begeistern können. Die besten Fantasyromane, die ich dieses Jahr gelesen habe, sind Babel von Rebecca F. Kuang (hier meine Besprechung) und The Jasmine Throne von Tasha Suri (siehe hier), das in einem faszinierenden indischen Setting spielt. Tolle Urban Fantasy im Shanghai der 1930er gab es noch mit Shanghai Immortal von A. Y. Chao.

Letzteres habe ich für einen Verlag begutachtet, konnte ihn aber leider nicht dafür begeistern. The Jasmine Throne hat letztes Jahr den äußerst renommierten World Fantay Award gewonnen, der stets anspruchsvolle und originelle Phantastikbücher auszeichnet, aber leider noch keinen deutschen Verlag.

Und hier wären wir bei einem kleinen Problem: Von der Vielfalt an aufregender Fantasy kommt bei uns nur ein Bruchteil an (von den Schwierigkeiten deutschsprachiger Autor*innen of Color und anderer Marginalisierter ganz zu schweigen). Die Verlage versuchen es durchaus, das bekomme ich aus erster Hand mit (auch wenn ich mir hier noch etwas mehr Mut wünschen würde), aber oft verkaufen sich diese Titel nicht gut (Babel ist eine überraschende Ausnahme), sprich, sie werden von der deutschsprachigen Leserschaft immer noch nicht in einem ausreichenden Masse angenommen. Die liest vorwiegend lieber mehr vom Gleichen, in nur leichten Variationen.

Bei mir ist es gerade diese Vielfältigkeit, die Diversität, die Settings (die ich früher vielleicht mal als exotisch bezeichnet hätte), der kulturelle Background der Autor*innen, was mein Feuer für Fantasy wieder entfachen kann, weil es eben nicht mehr der gleiche eurozentrische, von Tolkien oder Conan beeinflusste klassische Fantasykram ist, der mir irgendwann zum Hals rausgehangen hat. Robert Jordan, Terry Goodkind, Raymond Feist, R. A. Salvatore, Tad Williams, Michael Moorcock (der ein bisschen aus der Reihe tanzte), George R. R. Martin, Dave Eddings (später Scott Lynch und Joe Abercrombie), das sind die Autoren, mit denen ich aufgewachsen bin, die bei mir damals den Sense of Wonder auslösten, den ich heute ein wenig vermisse. Vermutlich, weil der Versuch, ihn mit dem gleichen Zeugs wie früher wiederzufinden, scheitert, weil es eben das gleiche Zeuges wie früher ist. Und für das ist der Sense of Wonder verbraucht (außer die Nostalgie hilft etwas nach).

Aber so ganz verschwunden ist er nicht, denn wenn ich Autor*innen wie Ken Liu, Rebbecca F. Kuang, N. K. Jemisin, Sofia Samatar Tasha Suri, Nnedi Okorafor, Kai Ashante Wilson, James Sullivan oder Marlon James lese (oder Tade Williams, Aliette de Bodard, G. Willow Wilson in der SF), glimmt dieser Funke für den Sense of Wonder wieder auf. Bisher habe ich ihn einfach nicht ausreichend genutzt. Obwohl ich so langsam gemerkt habe, dass alle Fantasy jenseits der eurozentrischen Settings (oder jene, die neue Perspektiven hineinbringt) mich viel mehr begeistern kann, lese ich doch viel zu wenig davon. Das muss sich ändern.

Und auch viele weiße Autor*innen sind inzwischen bemüht, ihre Fantasygeschichten diverser aufzustellen, neuen Settings auszuprobieren, die alten Tropen aus dem Fenster zu schmeißen, hinterfragen ihre privilegierten Positionen, öffnen sich empathisch für die Perspektiven anderer und sind auch bemüht, dies mit der notwendigen Sorgfalt anzugehen, auch wenn es da noch viel Nachholbedarf gibt (Stichwort Sensitivity Reading, wobei das eigentlich Aufgabe des Verlags ist).

E-Book-Cover von "A Stranger in Olondria".

Vieles an Fantasy (und SF) was auch früher schon diverser aufgestellt war, ist heute leider in Vergessenheit geraten. Trotzdem würde ich behaupten, dass wir aktuell im Golden Age of Fantasy leben, denn eine phantasievollere, vielseitigere, abwechslungsreichere und kulturell bereichernde Fantasy hat es meiner Meinung nach zuvor noch nicht gegeben. Und viele dieser Autor*innen können wirklich gut schreiben, haben tolle, vielschichtige, komplexe und tiefergehende Geschichten zu erzählen.

Das Problem liegt also einzig bei mir. Das Gefühl, alles schon irgendwie gelesen zu haben, ist eben das: nur ein Gefühl. Es gibt noch so viel mehr zu entdecken. Auf geht’s …

Fazit

Also, statt mich zu beklagen, dass mir beim Lesen von Fantasy die Phantasie abhandengekommen ist, sollte ich mir genauer anschauen, welche Romane mir noch einen Sense of Wonder bereiten, und dann nach ähnlichen Werken suchen. Dass ich das bisher nicht getan habe, liegt an meiner Philosophie, keine zwei Bücher aus einem Genre hintereinander zu lesen, weil ich die Abwechslung liebe. Aber vielleicht ist genau das, das Problem, denn das Genre-Hopping ist zur Routine geworden, obwohl es ja eigentlich für Abwechslung und Überraschungen sorgen sollte. Die Zeiten, in denen ich sechs Bände einer Fantasyserie am Stück verschlungen habe, sind sicher vorbei, aber mal zwei, drei am Stück lesen, damit die Immersion wieder intensiver wird und ich mich besser auf die Welt einlassen kann, ist vielleicht keine schlechte Idee.

Früher als Kind kam mir die Welt unendlich groß vor, der Besuch in einer Buchhandlung oder einer Videothek wie der Besuch in einer unermesslichen Schatzkammer. Mit dem Größerwerden ist die unmittelbare Welt um mich herum geschrumpft, aber die Welt der Fantasyliteratur ist massiv gewachsen. Hier lohnt der Blick über den Scheibenweltrand. Und vielleicht kann ich mich dann wieder so klein wie früher fühlen, in der großen weiten Welt, und ihr mit unbändigem Staunen begegnen.

Naja, so eine richtige Gegenrede war das jetzt gar nicht, eher eine Ergänzung.

Wo ist meine Fantasie beim Lesen hin? – Auf der Suche nach dem Sense of Wonder

In diesem Blogbeitrag begebe ich mich auf die Suche nach meiner verschwundenen Fantasie. Gehe der Frage nach, warum mir beim Lesen von Fantasybüchern der Sense of Wonder, das unbändige Staunen, (zumindest teilweise) abhandengekommen ist.

Wie viele Menschen meiner Generation, die unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind, suche ich bei Filmen, Hör- und Computerspielen, aber vor allem bei Büchern immer wieder diesen Sense of Wonder, den ich als Kind und Jugendlicher so oft verspürt habe. Etwas, das mir beim Lesen immer seltener gelingt und oft nur noch durch eine gehörige Portion Nostalgie möglich ist. Aber warum ist das so? Wo ist meine Fantasie beim Lesen hin?

Ich bin Jahrgang 1979, im Oktober werde ich 44 Jahre alt. Als Jugendlicher in den 90er-Jahren habe ich die Fantasy für mich entdeckt. Bin mit Pug und Thomas durch Raymond Feists Midkemia gereist, diese Bücher habe ich förmlich verschlungen. Jedes Wochenende musste mein Vater mich wieder nach Koblenz fahren, wo ich die Buchhandlungen nach dem nächsten Band abgeklappert habe. Das Fantasyregal in der Montanus/Phoenix-Buchhandlung im Löhr-Center erschien mir wie eine riesige Schatzgrube voller Welten und Möglichkeiten.

Ich habe mit Elric und Mondmatt gelitten auf ihren unzähligen Abenteuern in teils grotesken Welten; war einer der Gefährten beim Versuch, den einen Ring loszuwerden; hatte Tränen in den Augen, als Drizzt’s Freund Wulfgar durch die Schergen der Spinnenkönigin (vermeintlich) starb; und kaum aus dem Staunen nicht raus, als ich das erste Mal die bizarre und grausame aber auch vielfältige und vor Kreativität nur so übersprudelnde Metropole New Crobuzon betrat.

Als Jugendlicher und junger Erwachsener (während meines ersten Studiums) wurde ich völlig in die Romane reingesogen, die ich las, als hätte ich eine Virtual-Reality-Brille getragen oder einen direkten Neurolink ins Buch. Die Immersion war nahezu perfekt. Erzeugt wurde sie einerseits durch die Magie der Worte, mit denen die Autor*innen diese Welten und Geschichten erschufen, aber zu einem großen Teil auch durch meine Fantasie, die wie eine Bilder-KI heute die Worte als Prompt-Eingabe nimmt und daraus etwas (vermeintlich) eigenes erschafft. Kopfkino nennen das viele. Zum einen werden die Worte der Autor*innen im Kopf in Bilder umgesetzt, aber auch die Lücken werden mit der eigenen Fantasie aufgefüllt und führen zu einer opulenten Erlebnisreise.

Und irgendwie ist mir diese Fantasie im Laufe der Jahre etwas abhandengekommen, die Gründe dafür sind vielfältig und ich werde versuchen, auf sie alle einzugehen.

Wo ist die Rechenpower hin?

Teils kommt es mir wie bei einem Computerspiel á la Cyberpunk 2077 vor, dass ich früher mit viel Rechenleistung gespielt habe, weshalb die Straßen voll von NPCs und Leben waren, das ich heute aber mit einer alten, schwachen Gurke spiele, weshalb die Boulevards wie leergefegt sind, die Grafiken verpixelt, die Farben blass, die Bewegungen ruckelig und die Maussteuerung schwerfällig.

Seinen Höhepunkt erreicht unser Gehirn mit 27 Jahren, bis dahin ist zum Beispiel auch das beste Alter für Schachspieler, danach baut die Gehirnleistung wieder ab. Ich merke das, wenn ich z. B. Point-and-Click-Adventures von früher spiele und viel länger für die Rätsel brauche, oder wenn die Reaktionszeit bei Ego-Shootern und kniffligen Spielen nachlässt. Anscheinend läuft mein Gehirn nicht mehr ganz so auf Hochtouren wie früher und sprudelt nicht mehr über vor Fantasie.

Der Reiz des Neuen ist weg

Fehlende Rechenpower dürfte allein aber kein Grund sein. Damals waren diese Welten für mich noch neu, ich hatte kaum Erfahrungen, was phantastische Bücher anging, jedes Abenteuer war eine Reise ins Unbekannte. Doch mit jedem gelesenen Buch wächst mein Erfahrungsschatz, Szenarien wiederholen sich, Tropen und Muster sind bekannt, vieles fühlt sich eben nicht mehr neu an. Alles schon mal ähnlich irgendwo gelesen.

Der kritische Leser in mir

Als Jugendlicher und junger Erwachsener war ich ein ziemlich unkritischer Leser, habe wenig hinterfragt, war einfach zufriedenzustellen und hatte andere Prioritäten bei meiner Lektüre. Inzwischen habe ich unzählige Bücher gelesen, zwei Studiums hinter mir, einiges an Lebenserfahrung gesammelt, bin als Person gewachsen und arbeite inzwischen professionell in der Buchbranche als Übersetzer, Redakteur und Gutachter.

Letzteres führt dazu, dass ich einen besonders kritischen Blick auf die Bücher habe, die ich lese. Schwächen fallen mir leichter auf, ebenso wie alles, was ich so oder so ähnlich schon in anderen Büchern gelesen habe. Ist Handlung stimmig? Gibt es Plotlöcher? Wie gut sind die Figuren und ihre Motivation ausgearbeitet? Wie würde so ein Buch auf dem deutschen Buchmarkt funktionieren? Was könnte getan werden, um die Schwächen auszubessern? Ist die Übersetzung nicht etwas zu nah am Original?

Dazu kommt ein ideologiekritischer Blick. Lese ich heute manche meiner einstigen Lieblingsbücher, bin ich teils ziemlich erschrocken über den dort enthaltenen Sexismus, die Misogynie, den Rassismus oder Rassismen, die politische Haltung (I’m talking to you, ✝Terry Goodkind) und unzählige andere Punkte, die mir früher überhaupt nicht aufgefallen sind.

Das gilt für alte Bücher, die ich nach vielen Jahren wiederlese, aber auch neue Werke werden von mir kritischer beäugt. Und ich bin hier gnadenloser geworden und breche Bücher viel schneller ab.

Dazu kommt, dass ich aufgrund der aktuellen Weltsituation in Sachen Klimakrise, Rechtsruck und Erosion der Demokratie nicht mehr so unbeschwert aufs Leben blicke wie früher. Das sind Themen, mit denen ich mich auch in meiner Freizeit beschäftige, zu denen ich Bücher lese und von denen ich erwarte, dass sie in Fantasygeschichten thematisiert werden. Das macht es aber auch schwieriger, abzuschalten. Der Eskapismus funktioniert nicht mehr so wie früher. Dabei halte ich ihn für wichtig, was Stressabbau und Resilienzförderung angeht, wenn er in einem gesunden Maß stattfindet.

Überangebot und zu viel Vorwissen

Ich habe inzwischen mehr als 300 ungelesene Bücher in meinen virtuellen und analogen Regalen stehen, darunter zahlreiche Fantasyromane. Vor lauter Auswahl weiß ich gar nicht, was ich als Nächstes lesen soll. Und je länger ein Buch bei mir ungelesen im Regal steht, mein Blick aber täglich darüber schweift, desto genauer werden meine Vorstellungen davon, womit auch ein wenig die Lust auf die Lektüre singt, weil ich das Gefühl habe, das Buch zu kennen, obwohl ich es noch nicht gelesen habe.

Mitte der 90er hatten wir noch kein Internet, in die Buchhandlung ging ich völlig unvorbereitet, alle Bücher, die ich dort entdeckte, waren neu für mich. Meine Informationen darüber beschränkten sich auf den Klappentext, ab und zu mal auf eine Werbung für das Buch am Ende eines anderen. Den Buchdeckel aufzuklappen war jedes Mal eine Reise in Unbekannte, Fanzines und Magazine kannte ich damals nicht.

Mit dem Internet stieg die Informationsdichte langsam an, ich entdeckte Onlinemagazine wie den Fantasyguide (für den ich dann selbst Rezensionen schrieb), Foren wie die Bibliotheka Phantastica, Kundenbewertungen bei Amazon usw. Mit der Zeit recherchierte ich immer mehr vor dem Bücherkauf, Womit natürlich schon gewissen Erwartungen an ein Buch geschürt werden, die eben auch enttäuscht werden können und den Überraschungseffekt mindern.

Ab Mitte/Ende der 2000er war ich fest im Fandom verankert, hatte den Markt im Blick, informierte mich immer über alle aktuellen Neuerscheinungen, auch auf dem englischsprachigen Buchmarkt. Ein Besuch in der Buchhandlung gleicht dadurch nicht mehr dem Besuch einer Schatzhöhle, in der ich mir ein paar Gemmen aussuchen darf, da ich über die meisten Bücher sowieso schon Bescheid weiß. Das macht mich zwar zu einem Genrekenner, aber auch zu einem Genreveteranen, der schon vieles gesehen hat und abgeklärt an die Sache herangeht, ohne großes Staunen.

Fehlende Ausdauer, das Alter

Früher bin ich manchmal tagelang in Büchern versunken und nichts konnte mich von der Lektüre ablenken. Die neuen Harry-Potter-Bände habe ich immer als erster in unsere Gemeindebücherei erhalten, weil die Bibliothekarin wusste, wie schnell ich sie durchhabe. Selbst die dicksten Bände habe ich innerhalb eines Tages verschlungen, bin ganz in der Welt von Hogwarts aufgegangen. Heute kann und will ich Rowling aufgrund ihrer wiederholt transfeindlichen Äußerungen nicht mehr lesen. Also auch die politischen Ansichten der Autor*innen beeinträchtigen meinen Spaß an der Lektüre. Ich trenne hier nicht die Kunst von der Künstlerin, und solch nachträgliches Wissen verändert auch meinen Blick auf die damalige Lektüre und macht ihn im Nachhinein kritischer.

Aber unabhängig von politischen und menschlichen Komponenten wäre ich heute schon rein körperlich wohl nicht mehr in der Lage, einen 700-Seiten-Schmöker am Stück zu verschlingen. Dafür hat sich meine Sehstärke zu sehr verschlechtert. An guten Tagen schaffe ich durchaus noch 200 Seiten eines gedruckten Buches, vorausgesetzt, die Schriftgröße fällt nicht zu klein aus. Bei E-Books ist die Schrift kein Problem, die kann ich nach meinen Bedürfnissen einstellen.

Inzwischen lese ich viele E-Books, zum einen aus Platzgründen (meine Regale sind zum Bersten voll), aber auch eben wegen der Schriftgröße (und wegen des Preises, gerade bei englischsprachigen Titeln). Trotzdem scheint die Haptik bei mir doch eine gewisse Rolle zu spielen, denn ich kann mich nicht erinnern, schon mal ein E-Book so verschlungen zu haben wie manch gebundenes Buch. Allerdings lese ich auch erst seit 2013 digital.

Meine liebsten Lesepositionen sind seit jeher auf dem Bett liegend, Oberkörper und Kopf auf einem Kissenstapel angelehnt; auf einem Sessel oder Sofa, die Beine aufs Bett gelegt oder die Füße auf einem Hocker an der Heizung abgestellt. Früher konnte ich so stundenlang liegen und sitzen, heute tun mir nach spätestens zwei Stunden Nacken oder Rücken weh. Dann unterbreche ich die Lektüre und bewege mich, setze mich an den Computer oder lenke mich sonst wie ab. Ich werde alt.

Ablenkungen

Apropos Ablenkungen, die sind heute vielfältiger. Ich hatte als Kind schon Konsolen wie NES und SuperNES und einen Computer. Wie hatten relativ früh Kabelfernsehen, einen Videorekorder und eine Videothek um die Ecke. Ich habe immer Sport im Verein gemacht und mich mit Freunden getroffen. Doch dank des Internets, des Smartphones und den zahlreichen Streamingdiensten sind die Ablenkungen auch im allerheiligsten Leserefugium größer geworden.

Ich mache auch nicht mehr so gerne das Gleiche für viele Stunden am Stück, sondern gestalte meinen Tag lieber abwechslungsreicher, selbst wenn das inzwischen zu einer Routine geworden ist. Im Prinzip habe ich feste Zeiten, zu denenen ich Sport mache, Filme oder Serien schaue, am Rechner sitze und eben lese. Ein hemmungsloser Binge-Konsum kommt bei mir nur noch selten vor. Das gilt übrigens auch für Streaming-Serien.

Serien

Und wo wir schon bei Serien sind. Früher waren Bücher für mich so ziemlich die einzige Möglichkeit, Fantasy zu konsumieren. Für Pen-&-Paper-Rollenspiele fehlten mir die passenden Freunde, und in Film und Fernsehen gab es nur vereinzelte gelungen Werke, Streifen wie Conan, der Barbar oder Zeichentrickserien wie Dungeons & Dragons. Einzig bei Computer- und Konsolenspielen genoss ich ebenso Fantasygeschichten (Legend of Zelda!).

Heute gibt es fast schon ein Überangebot an Fantasyserien Das Rad der Zeit, The Witcher, Die Ringe der Macht, Shadow and Bone, Carnival Row, Arcane, Demonslayer, Vox Machina, House of the Dragon – um nur mal ein paar aktuelle zu nennen.

Verfilmte Bücher (und das gilt für alle Genres) manipulieren das Kopfkino bzw. die Fantasie, mit der ich mir die Buchfiguren, Landschaften usw. früher ausgemalt habe. Wer denkt bei Conan nicht direkt an Arnold Schwarzenegger oder bei Gandalf an Ian McKellen. Die Bilder aus den Filmen und Serien überlagern die einst von meiner Fantasie erschaffenen Bilder. Was eine erneute Lektüre dieser Bücher natürlich verändert. Das Gleiche gilt für die Erstlektüre von Werken, zu denen es schon Verfilmungen gibt. Wobei es früher natürlich auch schon Illustrationen in Büchern und auf den Covern gab, die das Bild von den Protagonist*innen beeinflussen konnten. Ich denke z. B. da an die Drachenlanze-Cover von Larry Elmore oder Elric von Rodney Matthews (siehe weiter oben).

Was Adaptionen angeht, frage ich mich allerdings, ob die steigende Zahl an Fantasy- und auch Science-Fiction-Verfilmungen mit immer besseren Spezialeffekten nicht auch generell Einfluss auf meine Fantasie hat und sie auf lange Sicht mindert?

Zweitlektüre

Zuviel Zweitlektüre könnte auch ein Grund sein, warum ich nicht so ganz in einem Buch versinke. Ich lese inzwischen eigentlich immer ein gedrucktes Buch und ein E-Book parallel. Das E-Book immer dann, wenn mir die Augen für das Printbuch zu müde sind. So zum Beispiel nachts die eine Stunde, die ich vor dem Schlafengehen noch lese. Oder nach einem anstrengenden Arbeitstag am Computer. Dazu habe ich häufig noch eine Langzeitlektüre, in der ich jeden Tag nur drei bis sechs Seiten lese – oft ein Sachbuch in unhandlich großer Form.

Veränderte Routinen

Früher war ich eine Nachteule, bin selten vor 3.00 Uhr nachts ins Bett gegangen (und erst gegen 11.00 Uhr aufgestanden), habe manchmal tatsächlich bis zum Sonnenaufgang durchgelesen, wenn das Buch besonders spannend war. Mein Sozialpädagogikstudium in Siegen hat sich um ein Semester verlängert, weil ich abends die tolle Idee hatte, Matt Ruffs Fool on the Hill anzufangen, das mich so gefesselt hat, dass ich es bis 7.00 Uhr am nächsten Morgen durchgelesen habe. Zur Empirie-Seminar um 8.00 Uhr habe ich es dann nicht geschafft, wo ich mich genau an diesem Tag zur Prüfung hatte anmelden müssen. Das war das Buch aber wert.

Heute liege ich selten länger als bis 9.00 Uhr im Bett und gehe spätestens um 1.00 schlafen. Länger zu lesen kommt da bei mir irgendwie nicht mehr infrage, das würde meine Schlafroutine zu sehr durcheinanderbringen. Denn so, wie sie aktuell ist, schlafe ich schnell ein, gut durch und bin am nächsten Morgen ausgeschlafen. Als Freiberufler kann ich aufstehen, wann ich will, aber selbst am Wochenende liege ich kaum länger als bis 10.00 Uhr im Bett – und das auch nur noch selten. Für mein jüngeres Ich wäre das undenkbar gewesen.

Buchcover 2Fool on the Hill". Vor gelben Hintergrund steht ein blauer Mann auf einerm roten Hügel und lässt einen rosa Drachen steigen, hinter ihm speit ein echter grüner Drache Feuer.

Das verhindert aber eben auch, dass ich mich ganz in einem Buch verliere. Ich lese immer noch viel, sogar mehr Bücher als vor 20 Jahren (40 bis 60 im Jahr), aber meist immer in Etappen, Intervallen, mit vielen Unterbrechungen, nicht mehr dauerhaft so tief in sie versunken – was die Fantasie teils vermutlich ausbremst. Im August hatte ich immerhin mal drei Wochen Urlaub gemacht und mich stark aufs Lesen konzentriert. Da habe ich die 800-Seiten-Biografie von James Tiptree innerhalb von zwei Wochen gelesen bekommen. Früher wäre das maximal eine Woche gewesen.

Wie oben auf den Fotos von meinem Fantasyregal zu sehen ist, habe ich früher lange Fantasyreihen gelesen. Da habe ich oft große Bestellungen bei Amazon und Bol.de aufgegeben, und mir zum Beispiel gleich alle sechs Bände der Chronik der Drachenlanze bestellt und die dann auch hintereinander gelesen. Irgendwann konnte ich das nicht mehr. Plötzlich dürstete es mich nach mehr Abwechslung, weshalb ich kaum noch zwei Bücher aus dem gleichen Genre hintereinander gelesen habe. Und bei Reihen und Serien komme selten über Band 3 hinaus, meist schaffe ich sogar nur den ersten, maximal den zweiten, weil ich dann schon wieder was Neues lesen möchte.

Was kann ich daran ändern

Vor einigen Jahren habe ich bei mir den internet- und smartphonefreien Samstag eingeführt und mich knapp ein Jahr lang samstags voll aufs Lesen konzentriert, dann bin ich aufgrund äußerer Umstände damit nachlässiger geworden, will das in Zukunft aber wieder ändern.

Feiertagswochenenden wie Ostern waren bei mir immer beliebte und ergiebige Schmöckerphasen, die ich gedenke wieder zu reaktivieren.

Die aktuelle Leseroutine aufbrechen.

Viele der hier aufgezählten Gründe gelten eher allgemein, was mein Leseverhalten angeht, aber ich glaube, sie wirken sich insbesondere auf meine phantastische Lektüre aus, die eine höhere Immersion erfordert, als wenn ich einen Krimi, der in New York spielt, lesen würde. Und deshalb möchte ich auch diese Punkte angehen, in der Hoffnung, wieder mehr Spaß an meiner Fantasylektüre zu finden.

Von 35 Büchern, die ich dieses Jahr gelesen habe, gehörten nur vier zur Fantasy. Zwei davon spielten in einer Version unserer Welt (das großartige Babel z. B.). Zwei davon waren allerdings für Gutachten, da bin ich sowieso mit anderem, kritischerem Blick sowie Kugelschreiber und Notizheft herangegangen. Da ging es nicht um Spaß.

Ich hätte mal wieder Lust, so richtig in einer Fantasywelt zu versinken, so wie ich kürzlich in Frederick Backmans Die Gewinner, dem Abschluss einer Björnstadt-Trilogie, versunken bin. Zum einen muss ich dafür die richtige Lektüre finden, zum anderen aber wohl auch mit einer anderen Leseerwartung und anderem Leseverhalten rangehen.

So ganz wird der Sense of Wonder nicht mehr zurückkehren, denn bei der Sehnsucht danach geht es ja auch um die Melancholie und Trauer bezüglich der verlorenen Jugend, der Geborgenheit und Unbeschwertheit der Kindheit. Und die ist nun mal vorbei.

Wie sieht es bei euch aus? Hat sich die Art, wie ihr Fantasy lest, mit den Jahren verändert.

Meine Woche 02.04.2023: Wir sind Taiwan, Monster Factory und der Wert des Lokaljournalismus.

Eine Serie über die Bedeutung des Lokaljournalismus, eine Doku über die moderne Demokratie Taiwans, Wrestling als Lebensretter und die Romane Streulicht und Neonregen. Dazu einige Artikel, Blog- und Radiobeiträge.

Irgendwie bin ich heute nicht so in Form, weswegen ich mit den Texten, die ich heute erst geschrieben habe, auch nicht wirklich zufrieden bin (einen Teil schreibe ich auch schon unter der Woche). Ich hoffe, ihr findet hier trotzdem die ein oder andere interessante Empfehlung.

Dokus und TV

Wir sind Taiwan

Sehr interessanter Beitrag über Taiwan, vor allem, weil er auch auf die indigene Bevölkerung der Insel, die Kolonialzeit vor Chiang Kai-shek und auch auf die dunklen Kapitel der Diktatur eingeht. Zum Beispiel durch den Film Untold Herstory, über Frauen, die als politische Gefangene in dieser Zeit ein Martyrium durchmachen mussten. Sie zeigt den Konflikt vieler älterer Taiwanesen, die noch eine stärkere Verbindung zur chinesischen Kultur verspüren, und der modernen, progressiven Jugend. Auf dem Demokratie-Index steht Taiwan noch vor Deutschland. Für LGBTQ+-Menschen aus Asien ist die Insel eine Art sicherer Zufluchtsort. All das wird aber auch durch China bedroht.

Gibt es in der Arte-Mediathek

Monster Factory

Das ist eher Docutainment, Monster Factory ist eine Wrestling-Schule bei New Jersey, die schon einige bekannte Wrestler hervorgebracht hat. In sechs Folgen werden der Leiter der Schule und einige seiner Schüler*innen bei den Vorbereitungen zu einem großen Showcase begleitet, von dem sich einige den großen Durchbruch und einen Vertrag bei einer großen Firma wie der WWE erhoffen.

Auch wenn ich als Kind Wrestling geliebt habe – meine Wände zierten Poster von Männern in knallbunten Unterhosen, mit verschwitzen Muskeln, Stars wie Hulk Hogan, Bret Hart oder der Undertaker (okay, der ist nie in Unterhose aufgetreten, eher in Strumpfhose) -, hat mich der Wrestling-Teil hier weniger interessiert. Ist schon faszinierend, zu sehen, wie straff aber auch leidenschaftlich Danny Cage seine Schule führt, aber mich haben vor allem die Lebensgeschichten der einzelnen Personen interessiert. Wo kommen sie her? Was hat sie zum Wrestling gebracht? Interessant ist zum Beispiel Notorious Mimi, die aus wohlhabender Familie stammt, in der alle studiert habe, die aber schon als Teenagerin wusste, dass sie Wrestling professionell betreiben möchte und das auch geschafft hat. Oder Twitch, der das Tourette-Syndrom und noch einige andere psychologische/neurologische Störungen hat, dem Wrestling aber praktisch das Leben gerettet hat und der trotz dieser Handycaps sehr zielstrebig seine Karriere verfolgt.

Das ist so eine Doku, die ein bestimmtes Sport-Team begleitet und ziemlich unkritisch darüber berichtet. Trotzdem werden auch ernste Themen wie Suizid und Krebs angesprochen.

Gibt es bei AppleTV+.

Precht

Es ist mir sehr unangenehm, hier eine Sendung von Richard David Precht zu verlinken, da ich den Typen inzwischen ganz furchtbar finde, aber ich nutze es, um einen Punkt zu unterstreichen, der mir wichtig ist. In der aktuellen Folge hat er den indischen Schriftsteller Pankaj Mishra zu Gast. Ich habe zufällig reingeschaltet und fand wirklich faszinierend, was Pankaj Mishra zu sagen hatte. Im deutschen Fernsehen kommen Stimmen von Menschen aus nicht-westlichen Ländern kaum zu Wort. Wir können schon froh sein, wenn mal ein australischer Historiker eingeladen wird, der etwas Außenperspektive reinbringt, aber auch fließend Deutsch spricht. Intellektuelle oder überhaupt Menschen aus Afrika, Asien, Lateinamerika oder anderen Regionen jenseits Europas und der USA finden praktisch nicht statt. In Magazinen wie dem Spiegel gibt es ab und zu mal Interviews, oder sie bekommen ein paar Minuten in Titel, Thesen, Temperamente, wenn mal ein Buch von ihnen auf Deutsch erscheint. Aber eine wirkliche Außenperspektive auf Europa und Deutschland erhalten wir viel zu selten. Wir müssen mit diesen Perspektiven und Ansichten ja nicht immer übereinstimmen, aber allein sie zu hören, ist schon ein Gewinn. Statt Precht in der Mediathek die Zugriffszahlen zu erhöhen, könnte ihr natürlich auch direkt Pankaj Mishras Bücher lesen. Die meisten davon sind auch auf Deutsch erschienen.

Serie

Alaska Daily

Die erste Staffel habe ich noch nicht komplett durch, möchte die Serie aber trotzdem schon empfehlen. Denn Serien über Print- und Lokaljournalismus gibt es viel zu wenig. Alaska Daily ist jetzt nicht auf HBO-Niveau wie The Newsroom, aber trotzdem eine feine Serie, die gut zeigt, wie Journalismus funktioniert, mit welchen Schwierigkeiten der Printjournalismus heutzutage zu kämpfen hat und wie wichtig er ist, für die örtliche Gemeinschaft, aber auch die Demokratie.

Die Prämisse erinnert an Northern Exposure (Ausgerechnet Alaska), eine New Yorkerin landet unverhofft in Alaska. Da enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Die Topjournalistin lernt, mit den begrenzten Mitteln einer Provinzzeitung wichtige Themen abzudecken. Dazu gehört z. B. die epidemisch hohe Zahl an Morden an indigenen Frauen, aber auch ganz allgemein die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Und das macht die Serie wirklich gut, mit der richtigen Mischung aus Ernsthaftigkeit, aber auch schrulliger Cozyness.

Die Serie basiert auf einer Artikel-Reihe mit dem Titel Lawless: Sexual Violence in Alaska und ist auf Disney+ zu sehen.

Tor Online

Meine SFF News , der Trailer zu Knights of the Zodiac verspricht knallige Action. Außerdem: Dungeons & Dragons als Therapie-Ansatz, Denis Scheck zeigt sich in Druckfrisch begeistert von Rebecca F. Kuangs historischem Fantasyroman Babel und ein unfairer Artikel über Brandon Sanderson.

Der Artikel der Woche stammt von mir: Teil 2 unserer Reihe über phantastische Kleinverlage ist da. Neun weitere werden euch hier vorgestellt, dazu kommt ein erster Einblick in das Programm des neuen Memoranda-Imprints Carcosa von Hannes Riffel (ehemals Golkonda).

Lektüre

Neonregen | Aiki Mira

Das teilgeflutete und verregnete Hamburg bietet die perfekte Kulisse, um die Neonlichter des Cyberpunks stimmungsvoll zu reflektieren. Und neonschlau holt Aiki Mira das Optimum aus diesem Szenario, sowohl sprachlich, inhaltlich, als auch vom Weltenbau her und den vielschichtig herausgearbeiteten Figuren und den vielen kleinen originellen Geschichten, die dem Neurosubstrat des Romans seine Substanz verleihen.

Es geht um Gamer*innen, KIs, Konzerne, VR, eine Revolution, Identität, aber vor allem (insert Vin-Diesel-Voice) Familie – und was wir daraus machen.

Streulicht | Deniz Ohde

In meiner Besprechung von Felix Lobrechts Sonne und Beton, schrieb ich, dass solche Bücher die vom Aufwachsen in der Arbeiterklasse, in Armut oder einfach schwierigen Verhältnissen meist von Männern stammen, Autoren wie Christian Baron, Didier Eribon oder Édouard Louis. Zum Ausgleich wollte ich mal einen Roman aus weiblicher Perspektive lesen. Und das hat sich wirklich gelohnt.

Streulicht ist keine Autobiografie, sondern ein fiktionalisierter Roman, der wohl stark autobiografische Züge hat. Wie sehr die Geschichte Deniz Ohdes Leben ähnelt, weiß ich nicht. Ist aber auch nicht wichtig.

Sprachgewaltig erzählt sie vom Aufwachsen in der Nähe eines Chemieparks. Allein der Einstieg, wie sie die Auswirkungen der Schornsteine auf Umgebung beschreibt, mit dem Schnee der künstlich und klumpig wirkt, ist großartig. Die Ich-Erzählerin wächst mit türkischer Mutter und deutschem Vater auf, obwohl beide berufstätig sind, scheinen sie psychische Probleme zu haben, was sie auch stark auf das Verhalten ihrer Tochter auswirkt, die nur ungern Freund*innen zu sich nach Hause bringt. Befreundet ist sie mit Sophie und Pikka, die sie bis zum Schulabschluss begleiten. Den erhält sie allerdings nur auf Umwegen. Warum sie zwischenzeitlich so schlecht in der Schule ist, kann sie selbst nicht erklären, denn später, als sie das Abitur nachholt, bringt sie super Noten nach Hause.

Diese Ambivalenz, nicht alles bis ins Details zu erklären, hat mir besonders gefallen. Mir ging es in der Schule ähnlich, schlechter Realschulabschluss, in der höheren Handelsschule sogar sitzen geblieben, und erst beim Fachabitur, als ich wirklich wusste, was ich will, kamen dann gute Noten. So richtig erklären kann ich das aber auch nicht.

Die Ich-Erzählerin ist schüchtern und leise, wodurch andere Menschen schneller und einfacher ihre Vorurteile verfestigen können. Und gerade diese Gefühle, diese scheinbar unbegreifliche Passivität bringt Ohde sehr plastisch rüber. Das konnte ich sofort nachvollziehen.

Eine weitere große Stärke sind ihre Schilderungen der schrulligen Familie, des fast blinden Opas, der mit im Haus lebt, die messieartige Sammelwahn des Vaters, aber auch das Unverständnis der privilegierten Freund’innen. Dabei klagt sie die Verhältnisse im Elternhaus nie an, der Vater wirkt, auch wenn er gelegentlich gegen Gegenstände randaliert, liebevoll und bemüht im Rahmen seiner Fähigkeiten. Die Mutter sowieso. Stolpersteine im Leben der Erzählerin sind vor allem jene Menschen, die sie eigentlich fördern sollten. Vor allem Lehrer*innen, die ihr auf unterschiedlichste Weise mit Vorurteilen begegnen.

Irgendwie fällt mir kein gescheiter Text zu dem Buch ein, das einen viel besseren verdient hätte. Mir hat es richtig gut gefallen, ich kann es nur weiterempfehlen

Streulicht ist dieses Jahr ausgewählt für Frankfurt liest ein Buch 2023. Vom 24. April bis 7. Mai 2023 gibt es mehrere Veranstaltungen in Frankfurt (teils mit Deniz Ohde).

Artikel

„Die Rückkehr des Wunderglaubens“

Über magisches Wunschdenken in der Klimakrise und die Forderung nach einem Moratorium in der KI-Forschung schreibt Christian Stöcker in seiner wöchentlichen Spiegel-Online-Kolumne und geht gut auf die differenzierten Argumente der verschiedenen Akteure ein.

„7 Fantasyromane, die mich positiv überrascht haben“

Ich liebe es, von Büchern, über die ich nichts weiß, überrascht zu werden. Lesen war für mich immer auch Abenteuer, doch je mehr ich schon über ein Buch weiß, desto geringer ist der Reiz des Abenteuers. Ein wenig trauere ich den Zeiten vor dem Internet nach, als ich noch nicht superinformiert über alles war und es nicht schnell nachschlagen konnte. Alessandra Reß stellt sieben Fantasyromane vor, die sie teils im Bücherschrank entdeckt hat und von denen sie positiv überrascht wurde.

Peter Schmitt über Raven – „Swordsmistress of Chaos“ von Richard Kirk

Ich zitiere hier mal Peters Einleitung zu seinem Artikel:

Ich bin in der Vergangenheit schon mehrfach darauf zu sprechen gekommen, dass ab Mitte der 70er Jahre neben den geläufigen männlichen Protagonisten vermehrt Heldinnen in der Sword & Sorcery auftauchten. Dabei habe ich diese Entwicklung, die ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte der 80er erreichte, insgesamt als progressiv und emanzipatorisch eingeschätzt und mit den politischen und kulturellen Veränderungen der Zeit, vor allem dem Second Wave – Feminismus, in Verbindung gebracht.

Dass es auch anders geht, beweist Raven!

Ich kenne weder Buch noch Autor, dachte ich, aber Peter klärt schnell auf, dass es sich um ein Pseudonym zweier Autoren handelt, von denen ich Angus Wells tatsächlich mit einem Titel im Regal stehen habe. Und Robert Holdstock ist mir auch ein Begriff. Peter gelingt es, auch über ein ganz furchtbares Buch einen unterhaltsamen und informativen Text zu schreiben. Er erzählt im Prinzip das komplette Buch nach, damit wir es nicht lesen müssen, macht das aber wirklich witzig und geistreich.

Kulturrat fordert bessere Bezahlung

In meinem Beitrag: Liebe Buchbranche, wir müssen reden! Wenn Selbstausbeutung existenzbedrohend wird habe ich schon darüber geschrieben, dass für uns Übersetzer*innen die Honorare in den letzten 20 Jahren nicht gestiegen sind. Was Angesichts der Inflation und kalter Progression existenzbedrohend wird. Beim WDR gibt es einen Beitrag dazu, dass der Kulturrat jetzt Basishonorare für Selbstständige in der Kulturbranche fordert. Bessere Honorare erhalten auch unsere Kulturlandschaft und die Unterhaltungsindustrie. Also vieles von dem, womit ihr eure Freizeit gestaltet. Wobei es hier nur um staatlich geförderte Einrichtungen geht.

„Meine 10 Game-Changerinnen (Literatur, Film, Wissenschaft unvm.)“Meine 10 Game-Changerinnen (Literatur, Film, Wissenschaft unvm.)“

Miss Booleana stellt auf ihrem Blog zehn Frauen vor, die sie persönlich maßgeblich beeinflusst haben. Darunter die französische Regisseurin Agnès Varda, deren Filme ich auch sehr schätze. Die Schauspielerin und Filme- und Serienmacherin Brit Marling, deren Serie The OA ich großartig fand. Und die von mir überaus geschätzte Ursula K. Le Guin. Und für mich mit meiner Leidenschaft für Japan besonders interessant, die japanische Mangazeichnerinnen-Gruppe CLAMP, die ich bisher noch nicht kannte.

„„Tetris“ der Film – Zocken und Kalter Krieg“

Den Tetris-Film auf AppleTV+ habe ich noch nicht gesehen. Aber Stefan Mesch, der den Film für Deutschlandfunk Kultur vorstellt, erklärt, wie wenig akkurat er ist und warum er ihn nicht überzeugen konnte.

Film

Heikos Welt

Obwohl selbst kein Kneipengänger, liebe ich Bücher und Filme über Kneipen. Heikos Welt ist ein per Crowdfunding finanzierter Film, der im Umfeld der Nordachse enstanden ist. Heikos Mutter verliert ihr Augenlicht, nur eine teure Operation kann helfen. Doch woher das Geld nehmen, Heiko ist ein äußerst erfolgloser Hehler, der plötzlich ein Talent für Dart entdeckt und an einem Turnier mit Preisgeld teilnehmen möchte.

Die Kneipenszenen und die Gestalten, die dort rumschlurfen, wirken alle superauthentisch, als wären sie direkt von der Theke weg gecastet worden (was sie vermutlich wurden). Leider gibt es da noch einen Mittelteil über einen Einbruch, der qualitativ stark abfällt. Und die Dramaturgie ist auch etwas holprig. In meiner internen Wertung wollte ich dem Film erst nur 6 von 10 Punkten geben, habe mich aus Sympathie zu den wirklich gelungenen Kneipenszenen, die wirklich auf den Punkt inszeniert sind, für sieben entschieden.

Musik

Letzte Woche habe ich schon Meg Meyers’ neues Album TZIA erwähnt, das läuft jetzt seit einer Woche bei mir rauf und runter, und gefällt mir mit jedem Hören noch besser. Deshalb hier zwei weiteres Video dazu.

Meine Woche 06.01.2023: Japan, Japan, James May, sumimasen

Erstmal noch frohes neues Jahr euch allen! Ich hoffe, es wird besser als 2022 (auch wenn ich das nicht wirklich glaube). Und danke fürs Vorbeischauen auf meinem Blog!

In meinem aktuellen Wochen-Newsletter geht es wieder viel um Japan: Eine ausführliche Besprechung der Dokumentation Salaryman über die teils problematische Angestelltenkultur in Japan. James May stellt in sechs Episoden die schöneren Seiten von Nippon vor. Dazu geht es noch um sinnlose Arbeit (Stichwort Bullshitjobs) und Buchneuerscheinungen 2023 in den Bereichen Science Fiction, Fantasy und Horror.

Filme

The Legend of the Stardust Brothers (1985)

Völlig überdrehte japanische Satire aufs Musikbusiness, die aus jeder Einstellung 80er-Jahre schreit und kreischt, größtenteils aus Meta-Montagen mit furchtbarer Musik besteht (manche Songs sind okay), die zeit- und kulturgeschichtlich aber durchaus von Interesse ist. Hat sicher ihr Publikum, ich gehöre aber nicht unbedingt dazu.

The Middle Man

Nettes Kleinstadtdrama mit komödiantischen Zügen, das einige makabere Wendungen nimmt.

Salaryman

Ganbaru

Der Film beginnt mit Männern, die bewusstlos oder schlafend auf Bürgersteigen liegen oder orientierungslos durch die Gegend torkeln. Männer, die nicht obdachlos sind, sondern Büroangestellte in Anzügen, die nach Feierabend mit den Kollegen saufen waren, was zur japanischen Arbeitskultur dazugehört. Die im Film interviewten Angestellten bezeichnen sich selbst als Arbeitsvieh und Sklaven, die morgens wie Zombies durch überfüllte Straßen und U-Bahnen ins Büro schlurfen und mittags Rahmen am Nudelstand, während es am Abend – oft verpflichtend – mit den Kollegen und dem Chef zum Karaoke geht oder in kleine Bars. Businessmen sind unabkömmlich, Salarymen ersetzbar und entbehrlich.

Der Film ist bezüglich dieser Arbeitsmoral sehr kritisch, lässt aber auch Stimmen zu Wort kommen, die dieses System in führenden Positionen umsetzen, und erklären, was dahintersteckt. Im Japanischen heißt das Wort für Angestellter als Kanji-Zeichen: „Jemand, der Arbeit befolgt“. Die unterschiedlichen Ansichten zu uns im Westen gründen sich darauf, dass in Japan die Gesellschaft bzw. Gemeinschaft vor dem Individuum kommt und den Anstrengungen, das Land nach dem 2. Weltkrieg wieder aufzubauen.

Um die Salarymen strukturiert sich auch das Geschäft mit den Host-Clubs und Hostessen, die von ihnen dafür bezahlt werden, ihnen Gesellschaft beim Trinken zu leisten, aber auch bei Geschäftsmeetings in Clubs.

Beim Zusehen empfinde ich es allerdings etwas unangenehm, wenn Regisseurin und Künstlerin Allegra Pachecco die auf der Straße Schlafenden mit Kreide umzeichnet und Leuten nachts mit der Kamera folgt, die sich kaum noch auf den Beinen halten können. Ich verstehe zwar, dass sie damit auf das Problem aufmerksam machen möchte; Karoshi, Tod durch Überarbeitung ist ein Problem in Japan, eine japanische Regisseurin hätte da so aber sicher nicht gemacht. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob nicht manche Szenen davon gestellt sind.

Es gibt auch Menschen, die versuchen, aus dem System auszubrechen. Manchmal nur im kleinen, wie die Extreme Commuters, die den Weg zur Arbeit möglichst unterhaltsam und abwechslungsreich gestalten, manchmal aber auch im Großen, indem sie ihren Job kündigen und auf Land ziehen, wo andere Arbeitsbedingungen herrschen.

Der Dokumentation gelingt es gut, Einblicke in die Arbeitskultur Japans zu liefern, zeigt eindrücklich, wie sich das so höfliche und zurückhaltende Tokyo nachts verändert, und lässt Menschen aus allen Bereichen zu Wort kommen. Aktuelle und ehemalige Salarymen, Soziologen, Gewerkschafter, Aktivisten, Vorgesetzte und die Mutter von Matsuri Takahashi. Letztere arbeitete für Japans größte Werbeagentur und nahm sich 2016 das Leben, weil sie den Druck und die Belastung durch die Arbeit, nicht mehr aushielt.

Eine durchaus einfühlsame Doku, die Bewusstsein für die Problematik liefert, aber auch ein paar unangenehme Momente hat.

Serien

Auf Disney+ – das ich noch für einen Monat habe – habe ich mir die erste Folge von The Old Man angesehen. Schlecht ist die nicht, aber Folge 2 habe ich nach zehn Minuten wieder ausgemacht, weil ich momentan einfach keine Lust auf noch eine Geschichte über einen alten CIA-Agenten habe, der von der Vergangenheit eingeholt und gejagt wird. So toll Jeff Bridges den auch spielt.

Nach Sumo Do, Sumo Don’t habe ich auch noch die anderen japanischen Serien auf Disney+ angefangen, von denen mich zwei mit ihren Pilotfolgen aber nicht so recht überzeugen konnten. Die Geschichten sind eigentlich ganz interesant, aber die Inszenierung ist eher so mittelprächtig und trifft in beiden Fällen nicht den intendierten Ton. Bei Was wir vergessen (Subete Wasurete Shimau Kara)geht es um einen Krimiautor, der sich auf die Suche nach seiner vermissten Freundin macht und herausfindet, dass sie gegenüber anderen Menschen eine ganz andere Person war, als bei ihm. So richtige Noir-Atmosphäre kommt aber leider nicht auf. Tomorrow I’ll Be Somone’s Girlfriend (Ashita, Watashi wa Dareka no Kanojo)erzählt von einer Studentin, die sich ihren Lebensunterhalt als Miet-Freundin verdient. Leider ist das recht holprig inszeniert.

Vielversprechender war die erste Folge der neuen Serie Gannibal (Gannibaru), die auf dem gleichnamigen Manga von Masaaki Ninomiya basiert (der erst im März auf Deutsch erscheint). Das Drehbuch stammt von Takamasa Ōe, der auch das Drehbuch von Drive My Car mitgeschrieben hat. Scheint in die Richtung von The Wailing zu gehen. Stadtbulle landet mit Frau und Kind in einem Dorf, in dem Unheimliches vorgeht und die Gebräuche der Einheimischen nicht immer ganz gesetzeskonform sind. Technisch ist das viel besser gefilmt, als die beiden Serien oben (wie man auch am Trailer sieht).

The Makanai: Cooking for the Maiko House

Einer meiner derzeit absoluten Lieblingsregisseure ist der Japaner Hirokazu Kore-eda (Shoplifters), dessen Our Little Sister mich letztes Jahr verzaubert hat. Am 12. Januar startet eine Serie von ihm auf Netflix. In The Makanai: Cooking for the Maiko House (Maiko-san Chi no Makanai-san)geht es um zwei Teenagerinnen/junge Frauen, die in der Zeit zurückreisen? um Meikos zu werden (eine noch exklusivere Variante der Geishas). Im Magazin Time-Out gibt es einen Artikel dazu, der auch ausführlich darauf eingeht, wie Kore-eda junge Filmemacher*innen fördert. Die Serie basiert auf dem Manga Maiko in Kyoto: From the Maiko House von Aiko Koyama.

James May – Our Man in Japan

Um diese Reisedoku habe ich mich lange gedrückt, weil James May einer der drei Moderatoren von The Grand Tour ist, neben Jeremy Clarkson. Zum Glück entpuppt sich May nicht als so ein großes, misogynes, rassistisches Arschloch. In der Serie kommt er sogar als ganz netter Kerl rüber. Clarkson hätte sicher keine Hemmungen gehabt, das Maid-Café zu betreten.

In sechs Folgen reist May vom verschneiten Hokkaido im Norden über Fukushima und Tokyo bis an die sonnigen Strände von Shikoku im Süden. Dabei macht er immer wieder skurrile Sachen mit, wie das Schneeball-Battle oder die Mechwarriors; aber auch traditionelle japanische Sachen wie Aikido, Kalligrafie oder Bogenschießen; oder besucht modernere japanische Events, wie ein Boy-Band-Konzert um 7.00 Uhr morgens, das Schülerinnen vor der Schule besuchen.

Begleitet wird er oft von unterhaltsamen Guides, verhält sich gerne recht albern (manchmal auch etwas respektlos) und bringt viel britischen Humor mit, für den er sich ständig – sumimasen – entschuldigen muss. Da ist natürlich viel dabei, was Japan-Aficionados wie ich kennen, aber auch Sachen, die mir bisher unbekannt waren.

Dokus

New York, New York

Beim ZDF gibt es seit dieser Woche mit New York, New York einen guten Film über die Stadt nach zwei Jahren Pandemie. Ist halt die klassische ÖR-Reportage, in der ein gestandener Auslandsreporter (Johannes Hano) interessante Menschen besucht und interviewt, die stellvertretend für viele jüngere Veränderungen stehen. Darunter ein aus Deutschland stammender Immobilienmakler für Superreiche, der genauso so auftritt, wie es das Klischee verlangt. Aber auch jemand, der sich seit drei Jahren darauf vorbereitet, dass Cannabis endlich in NY legalisiert wird.

Arbeit ohne Sinn

Die Doku auf Arte geht der Frage nach, warum eine Vielzahl moderner Arbeitsstellen das sind, was der hier auch zu Wort kommende (inzwischen leider verstorbene) David Graeber in seinem gleichnamigen Buch als Bullshitjobs bezeichnet. Wie konnte unsere Arbeitswelt so ineffizient werden, was vor allem auf Kosten der Angestellten geht, die diese sinnlosen (oder als sinnlos empfundenen) Tätigkeiten ausführen, und dann im Burnout landen. Von der massiven Kapitalvernichtung, die schlechtes Management verursacht, ganz zu schweigen. Kann Arbeit auch Spaß machen? Auf jeden Fall! Mir macht meine Arbeit Spaß. Noch mehr Spaß würde sie allerdings machen, wenn sie besser bezahlt wäre.

Offices are graveyards of possibilities.

Lektüre

Farbiges E-Book-Cover von "The Jasmine Throne". Vor gelbem Hintergrund sitzt eine junge Frau in indischem Sari auf der Steintreppe eines Tempels.

Endlich beendet: The Jasmine Throne von Tasha Suri. Einer der besten Fantasyromane, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Opulenter Weltenbau, der Magie und Natur auf sehr originelle Weise verbindet; eine mitreißende Geschichte; vielschichtige Figuren und eine an die indische Kultur angelehnte Mythologie. Im Mittelpunkt stehen drei Frauen, die für ihr Recht zu leben, aber auch die Freiheit ihres Landes kämpfen. Hat den World Fantasy Award 2022 verdient erhalten. Auf Deutsch ist das Buch leider noch nicht erschienen. Für eine ausführlichere Besprechung fehlen mir leider Zeit und Muse, verdient hätte es das Buch aber.

Neue Bücher 2023: Science Fiction, Fantasy und Horror

Auf seinem Kanal SFF 180 stellt Thomas Wagner in drei Videos interessante Neuerscheinungen aus den Bereichen Science Fiction, Fantasy und Horror vor. Ich bette hier nur mal das Video zur Fantasy ein, da dort die meisten Titel dabei sind, die mich interessieren. Z. B. The Daughters of Idzihar von Hadeer Elsbai, The Keeper’s Six von Kate Elliot oder Victory City von Salman Rushdie. Bereits lesen konnte ich The Basilisk Throne (04.04.23) von Greg Keyes und The First Bright Thing (22.06.23) von Jenna Dawson, die ich beide nur empfehlen kann (mehr schreibe ich dazu, wenn sie im Original erschienen sind). Wagner versteht es wirklich gut, in kurzen, klaren Sätzen vorzustellen, worum es in den Büchern geht und wie sie im Kontext des Gesamtwerk der jeweiligen Autor*innen einzuordnen sind.

Tor Online

In meinen SFF News ging es diese Woche um die Absetzung der deutschen Netflix-Serie 1899, über die ich hier auf dem Blog bereits gerantet habe. Dazu ein Teaser-Trailer zum südkoreanischen Science-Fiction-Film Jung_E, das Brecht-Haus über progressive Phantastik und das Magazin nd über gute Science-Fiction-Bücher 2022.

Im Artikel der Woche von Natascha Strobl geht es um Akte X, Dystopien und Querschwurbeleien. Der ist richtig gut geworden und hat mir wieder Lust gemacht, meinen Akte X-Rewatch (in Staffel 4) fortzusetzen.

lesenswelt

Auf meiner anderen Webseite lesenswelt.de habe ich eine Besprechung des Mangas Boys Run The Riot von Keito Gaku veröffentlicht. Hier ein kurzer Teaser:

Gefühlvoller und mitreißender Manga über junge Menschen, die noch nach ihrer Identität und Stimme suchen; die sich gegen die gesellschaftlichen Konventionen auflehnen und ihre Kreativität nutzen, um einen Platz im Leben zu finden.

Worüber ich mich freue

Juhu, Januar. Endlich kann ich meinen neuen Kalender aufklappen. Das Foto hier von Jan Becke zeigt verschneite Bauernhäuser in Shirakawa.

Links der Rand eines Bücherregals, in der Mitte eine Karte von Japan und rechts daneben ein Wandkalender mit einem Fotos von verschneiten Bauernhäusern in Japan - alles vor einer gelben Tapete, rechts daneben ein blauer Vorhang.

Meine erste Arbeitswoche im neuen Jahr. Kein Scheiß! Während der beiden Wochen Weihnachtsurlaub habe ich mich natürlich nicht darauf gefreut, montags wieder mit der Arbeit anzufangen. Hätte gerne noch eine Woche mehr sein können. Doch schon nach dem ersten Arbeitsvormittag hatte ich gute Laune, die die ganze Woche lang anhielt, weil eigentlich alles gut lief und Spaß gemacht hat (siehe „Arbeit ohne Sinn“ weiter oben).

Meine zehn liebsten Bücher 2022

Meine Filmliste muss noch warten, da ich mir 2022 noch einige Filme ansehen werde, aber was Bücher angeht, werde ich mit meiner aktuellen Lektüre dieses Jahr nicht mehr fertig werden. Gelesen habe ich insgesamt 51 Bücher (21 davon von Frauen, (so weit ich das überhaupt beurteilen kann), darunter aber auch sechs noch unveröffentlichte englischsprachige Manuskripte, die ich für einen Verlag begutachtet habe, von denen eines dort auch im Sommer/Herbst 2023 erscheinen wird (inzwischen kann ich verstehen, warum Verlagslektor*innen privat nicht viel gelesen bekommen). Alle Rereads habe ich nicht mit einbezogen, sonst hätten es auch noch Perdido Street Station von China Miéville und Die eisige Zeit/Der Tag des Sehers von Steven Erikson auf die Liste geschafft. Tsugumi ist aber schon so lange her, dass ich mich gar nicht mehr an das Buch erinnern konnte.

Bei den zehn Titeln handelt es sich nicht unbedingt um die zehn besten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe, sondern um jene, die mir subjektiv am besten gefallen habe. Sechs Bücher stammen von Frauen, an einem siebten hat eine mitgeschrieben. Die Reihenfolge der Liste hat nichts mit einer Wertung zu tu, sie ist rein zufällig gewählt

Die Flüchtigen | Alain Damasio

Das dürfte eines der besten Phantastikbücher der letzten Jahre sein. Ein sprachliches Wunderwerk, das als Near-Future-Dystopie beginnt und durch seinen kleinen Fantasyanteil im Verlauf ein rebellisches, anarchistisches Herz entwickelt, und das trotz aller anspruchsvollen wissenschaftlichen und philosophischen Exkurse eine herzerrreißende und anrührende Familiengeschichte erzählt.

Großartig aus dem Französischen übersetzt von Milena Adam. Erschienen bei Matthes und Seitz.

Breasts and Eggs | Mieko Kawakami

Schonungslose, aber poetische Geschichte einer jungen Japanerin, die in Armut aufwächst, in Einsamkeit lebt und durch ihre Asexualität Schwierigkeiten hat, ihren Kinderwunsch im starren Konstrukt der japanischen Gesellschaft erfüllt zu bekommen. Hat ein paar Längen bei den Monologen von Natsukos Freunden, die ihre jeweiligen Lebensgeschichten erzählen, liest sich insgesamt aber großartig und liefert Einblicke in die japanische Gesellschaft, die man sonst eher selten bekommt. Noch offener und direkter als in den Romanen von Sayaka Murata, Yoko Ogawa und Banana Yoshimoto.

Die englische Übersetzung stammt von Sam Bett und David Boyd. Es gibt auch eine deutsche Ausgabe von Katja Busson, die als Brüste und Eier bei Dumont erschienen ist.

The Marvels | Brian Selznick

The Marvels von Brian Selznick ist eine wunderbar berührende und außergewöhnlich erzählte Familiengeschichte. Der geschriebene Teil über ca. 200 Seiten fällt etwas ab zu den gezeichneten 400 ersten, kann aber durch seine Auflösung trotzdem überzeugen. Ich kann allerdings auch verstehen, dass noch kein dt. Verlag hier zugegriffen hat, denn das Buch kommt im Format eines Jugendbuchs her, doch diese Liebeserklärung ans Theater, an Shakespeare und ungewöhnliche Familienmodelle dürfte nur wenige Jugendliche ansprechen. Ist eher was für Erwachsene wie mich, die sich gerne außerhalb der üblichen Erzählkonventionen bewegen.

The Impossible City: A Hong Kong Memoir | Karen Cheung

Ein ganz tolles Porträt des jungen Hogkongs von 1997 bis zur Gegenwart. Cheung geht vor allem auf die drastischen Veränderungen im alltäglichen und kulturellen Leben ein. Sie ist eine junge Hongkongerin, deren vertraute Umgebung, die Stadt, die sie so liebt, Stück für Stück in einem autoritären System verschwindet, was wirklich herzzerreißen zu lesen ist. Dabei geht sie aber auch auf die davon unabhängigen sozialen Probleme für junge Menschen ein, wie die Wohnungsnot oder die unzureichende Gesundheitsversorgung im Bereich psychischer Erkrankungen. Die Verhältnisse, unter denen sie jahrelang wohnen muss, sind wirklich gruselig, aber für Hongkong nicht ungewöhnlich. Eine wehmütige Liebeserklärung an eine Stadt, die aber nie so war, wie sie in den Filmen von z. B. Wong Kar-Wai romantisiert wurde. Das Buch bietet uns Leser*innen im Westen, die Möglichkeit, über unser bisheriges Bild von Hongkong zu reflektieren.

The Tender Bar | J. R. Moehringer

Ich habe mich lange nicht mehr so wohl in einem Buch gefühlt, wie in J. R. Moehringers Jugendmemoiren The Tender Bar, einer (sicher romantisch verklärten) Liebeserklärung an die Stammgäste des Publicans in Manhassat, die aber auch seinen Abnabelungsprozess schildert. Großartig, wie er diese unterschiedlichen Menschen mit ihren Eigenheiten beschreibt, die Gemeinschaft, die dort entstanden ist, aber auch die sozialen und finanziellen Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben. Ist aber halt auch so ein typisches autobiografisches Buch eines weißen Autors mittleren Altes. Darüber muss man sich klar sein. So divers wie Clooneys Verfilmung besetzt ist, ist das Umfeld Moehringers in den 70/80er-Jahren nicht gewesen. Leider verfehlt die weichgespülte Verfilmung den Kern des Buchs und lässt die tragischen Entwicklungen einzelner Figuren und das bewegende Kapitel über 9/11 aus. Moehringer ist ein begnadeter Erzähler, der seine eigenen (Fehl-)Entscheidungen erfrischend schonungslos beschreibt.

Tsugumi | Banana Yoshimoto

Das Buch habe ich vor ca. 20 Jahren schon einmal gelesen, konnte mich aber kaum noch an den Inhalt erinnern, nur, dass eine Grube im Garten eine Rollle gespielt hat und es mir gefallen hat. Und das hat es auch bei der Zweitlektüre. Yoshimoto versteht es meisterhaft, kleine Szene und Stimmungen einzufangen, dazu der mehr als interessante Charakter der titelgebenden Tsugumi. Die ist gar nicht die Erzählerin des Romans. Das übernimmt ihre beste Freundin Maria, die im Alter von 19 Jahren aus dem kleinen Küstenstädtchen nach Tokio zieht, aber für einen letzten Sommer noch einmal zu Tsugumi und ihrer Familie zurückkehrt. Was Anlass für viele Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit ist. Die hat Tsugumi in einem stets kränklichen, geschwächten Körper aber mit eisernem Willen und scharfer Zunge verbracht und nicht wenige Menschen mit ihrer unverblümten bis boshaften Art vor den Kopf gestoßen.

Aus dem Japanischen übersetzt von Annelie Ortmanns

Last Night at the Telegraph Club | Malinda Lo

Chinatown/San Francisco 1954, die 17-jährige Lily entdeckt ihre Zuneigung zum eigenen Geschlecht und ihrer Mitschülerin Kath, während die Familie mit dem Red Scare zu kämpfen hat. Einfühlsam und bewegend geschrieben. Liefert interessante Einblicke in die queere Szene dieser Zeit sowie das Leben der chinesischen Einwanderer*innen. Abseits aller Klischees, die über dieses Jahrzehnt kursieren.

Vita Nostra | Sergej und Marina Dyachenko

Hauptfigur Samokhina muss vor Sonnenaufgang nackt im Meer schwimmen, im Winter durch den Park joggen und danach ins Gebüsch pinkeln, um Goldmünzen auszukotzen, mit denen sie Zutritt zu einem Institut erhält, dessen Arbeitsbücher überhaupt keinen Sinn ergeben.

Außergewöhnlicher und sehr gelungener Dark-Academia-Weird-Fiction-Roman in slawischer Erzähltradition des ukrainischen Autorenpaaars Marina und Sergej Dyachenko. Erschien 2007 im russsischen Original, 2018 in der englischen Übersetzung von Julia Meitov Hersey. Gibt es leider nicht auf Deutsch.

Die phantastischen Elemente sind auf sehr ungewöhnliche Weise integriert, mit einem faszinierenden Ansatz, den ich hier nicht spoilern will. Trotzdem scheint mir das in erster Linie ein Buch übers Erwachsenwerden zu sein und dem Unabhängigwerden von den Eltern.

Sergej Dyachenko ist dieses Jahr leider verstorben. Die englische Übersetzung der Fortsetzung erscheint im März 2023 als Assassin of Reality.

Indelible City: Dispossession and Defiance in Hong Kong | Lousia Lim

Lousia Lim über die Jahrhunderte alte Geschichte Hongkongs, den King of Kowloon, die Vernichtung Hongkongs durch die chinesische Regierung und ihr eigenes Verhältnis zur Stadt ihrer Kindheit. Spannend und faszinierend.

Unser Teil der Nacht | Mariana Enriquez

Eine großartige Mischung aus Coming-of-Age-Horror und okkult-verkorkster Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Militärdiktatur in Argentinien. Warnung: Es gibt drastische Gewalt gegenüber Kindern. Im Zentrum stehen Juan und sein Sohn Gaspar. Juan ist ein Medium, das mit einem übernatürlichen Wesen namens „Die Dunkelheit“ Kontakt aufnehmen und dunkle Magie wirken kann. Dafür wird er von einem geheimen, mächtigen Orden ausgebeutet, möchte seinem Sohn dieses Schicksal aber ersparen.

Der Roman ist von der Struktur her postmodern angelegt, seine unterschiedlichen Teile werden nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt, setzen sich am Ende aber, wie bei einem Puzzle zusammen. Mal ist er brutal und verstörend, dann gibt es wieder richtig schöne Passagen, mit vermeintlich jugendlicher Idylle. Ein gewaltiges Familienepos, stilistisch herausragend, atmosphärisch dicht und vor allem mal in einem für das Horrorgenre ungewohnten Setting.

Deutsche Übersetzung aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann.

Holger M. Pohl – Ein Nachruf

Ich weiß gar nicht mehr, in welchem Jahr genau ich Holger persönlich kennengelernt habe, aber es war auf jeden Fall auf dem Bucon, 2006 oder 07 vielleicht. Vorher kannten wir uns schon durch unsere gemeinsame Arbeit beim Fantasyguide übers Internet. Die Treffen auf dem Bucon sollten zu einer liebewordenen Tradition werden. Wenn Ralf Steinberg, Michael Schmidt und ich zusammen auf dem Bucon eintrafen, hatte Holger meist schon einen Tisch besetzt, an dem wir uns dann für den Rest des Cons niederließen und um den herum praktisch ein ganzer Kosmos entstand, bei dem immer wieder Leute vorbeischauten. Nachdem Con ging es dann stets zum traditionellen Essen der Fantasyguide-Gruppe (+ weitere Freunde u. Bekannte), oft war Holgers Frau Moni (mit der er seit 1986 verheiratet war) mit dabei (die beiden sind dann am nächsten Tag noch auf die Frankfurter Buchmesse). Die letzten beiden Jahre hatten wir in unserer Whats-App-Gruppe öfters darüber geschrieben, wir sehr uns dieses Treffen fehlt und wie sehr wir uns darauf freuen, wenn es wieder möglich sein wird. Dass das jetzt nie wieder stattfinden wird, kann ich gar nicht glauben.

Holger war auch meist mein Hauptgesprächspartner auf dem Marburg Con, auf dem ich nicht so viele Leute kannte. Und auch in Leipzig auf der Buchmesse haben wir uns gelegentlich getroffen. Auf dem ersten Foto oben sieht man ihn bei einer seiner ersten Lesungen 2015 zu seinem ersten Roman Arkland. 2018 haben wir uns zusammen in Berlin ein Hotel genommen, um mit Ralf einen kleinen Fantasyguide-Con zu veranstalten (der nur aus uns Dreien bestand). Das war ein sehr lustiges und sehr angenehmes Wochenende, das wir schon längst wiederholt hätten, wäre nicht Corona dazwischengekommen). In unserer WhatsApp-Gruppe hatten wir uns zeitweise fast täglich unterhalten.

Holgers große Leidenschaft war die Fantasy. Er liebte Herr der Ringe, veranstaltete jedes Jahr im Dezember einen Marathon mit den Verfilmungen, reiste mehrfach mit dem Camper durchs Land der Ringe Neuseeland (hier sein Reisebericht), um die Drehorte zu besuchen und im Tänzelnden Pony zu speisen. Doch auch die Space Opera hatte es ihm angetan, die war für ihn das Salz in der SF-Suppe (S. 28). Und so schrieb er mit Arkland eine Fantasy-Reihe in der Tradition der Sword-and-Sorcery der 60/er und 70er Jahre, die er so mochte (vor allem Michael Moorcock, den er mal interviewen durfte), war aber auch mit Die neunte Expansion und Rettungskreuzer Ikarus im Weltraum unterwegs, zuletzt zusammen mit Dirk van den Boom in der Welt der 7 Ebenen.

Seine humorvolle Seite zeigte er nicht nur auf den Cons in lustiger Runde, sondern auch in seinem Langzeitprojekt Die Leiden des jungen Verlegers, das 2021 nach langem „Autorenleiden“ erschien, in dem er die deutschsprachige Kleinverlagsszene fantasyvoll auf die Schippe nahm. Seine Bücher schrieb er teilweise im Zug auf dem langen Weg zur Arbeit und zurück. Seine bissige Seite zeigte er gerne in seiner Kolumne beim Fantasyguide. Im Fandom war er auch schon lange vor seinem ersten Roman bekannt, unter anderem als Autor und einer der Herausgeber des Magazins Phase X.

Und obwohl er Schwabe war und in der Nähe von Stuttgart wohnte, galt seine Fußballliebe Borussia Dortmund. Doch wenn es um Kartoffelsalat ging, war er ganz Lokalpatriot und bestand darauf, dass der ohne Mayonnaise zubereitet wurde.

Holger war so ein netter und toller Mensch, der sich sehnsüchtig auf seine nächste Neuseelandreise gefreut hat und auf die Zeit, in der er sich ganz dem Schreiben widmen kann. Am 16. Januar wurde er 63 Jahre alt. Letzten Montag schrieb er noch auf Facebook: »Montag und Urlaub … die Welt ist in Ordnung 🙂!«. Jetzt ist Freitag, und sie ist es nicht mehr, denn Holger ist gestern völlig überraschend verstorben.

Meine diesjährigen Artikel auf Tor Online und eine kurze Vorstellung der Seite

Den Blog habe ich in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt, was aber nicht heißt, dass ich nichts geschrieben hätte. Das ist nur alles bei Tor Online erschienen (mehr zu Tor Online gibt weiter unten). Falls jemand Interesse hat:

Zuletzt gab es dort von mir eine dreiteilige Artikelreihe über Animes. Im ersten Teil geht es um die Geschichte des Animes, vom Papiertheater Kamishibai über die Propagandafilme des 2. Weltkriegs bis zu den Serien meiner Kindheit wie Biene Maja und Wiki und die starken Männer und Meilensteine des Films wie Akira und Ghost in the Shell.

Teil 2 ist eine Übersicht über die unterschiedlichen Genres des Animes aus westlicher Perspektive. Science Fiction mit seinen Untergenres wie Cyberpunk oder Space Opera; Fantasy, historische Animes und „durchgeknallter Scheiß“.

Teil 3 stellt einige der herausragendsten Animemacher wie Hayao Miyazaki, Mamoru Hosoda oder Makoto Shinkai vor und widmet sich in einem zweiten Abschnitt kontroversen Themen wie die Darstellung von Sex, Gewalt und Frauen in Animes.

Gelegentlich schreibe ich auch Auftragsartikel mit Themenvorgabe, so zum Beispiel über die kommende Netflixserie Cursed von Frank Miller und Thomas Wheeler, die gleichzeitig auch einen Roman über die Coming-of-Age-Geschichte Nimues – der Lady of the Lake aus der Artus-Saga) rausbringen, der auf Deutsch bei Fischer Tor erscheint.

In Schluss mit der Schwarzseherei! Warum Zukunft wieder ein positiv besetzter Begriff werden muss plädiere ich für mehr optimistische und hoffnungsvolle Geschichten in der Science Fiction, da mir Dystopien und Nostalgieflucht in letzter Zeit zu sehr überhandnehmen.

Im Mai erschien ein Artikel über Science Fiction in der Musik, in dem ich Songs, Alben und Musikvideos vorstelle, in denen die SF eine tragende Rolle spielt. Das geht von Hawkwind, David Bowie und Queen, bis in die 90er mit Monster Magnet und Björk bis zu aktuellen Werken von Janelle Monáe oder Alice in Chains.

Weitere Auftragsartikel sind Brave New World Serie: Was wir bisher über die Neuverfilmung von Huxleys Dystopie wissen und Tales from the Loop: Was wir bisher über die Amazon-Serie wissen.

Der Artikel von mir, der wohl am meistens Aufmerksamkeit erhalten hat, ist Wiki und die „starken“ Männer: Von der Löschung der Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen über den Kampf einiger engagierter Frauen gegen die Engstirnigkeit der Wikipedianer.

Das aufwendigste Projekt, das ich bisher für Tor Online durchgeführt habe, war Wanted: Die 100 besten Science-Fiction-Bücher aller Zeiten. Dazu wurden am 31. Oktober 2018 alle SF-Fans dazu aufgerufen, ihre jeweils fünf besten SF-Romane zu nennen. Daraus ergab sich eine Liste mit 450 Titeln, die von 219 Teilnehmern eingereicht wurden (Mehrfachnennungen nicht mitgerechnet). Daraus wiederum haben fünf Jurymitglieder eine Liste von 100 finalen Titeln gewählt. Darunter natürlich die üblichen Klassiker wie Hyperion, Neuromancer und Der Wüstenplanet, aber auch neuere Titel wie Der lange Weg zu einem kleinen, zornigen Planeten oder Kinder der Zeit.

Zu allen 100 Titeln habe ich jeweils einen kurzen Text verfasst, der kurz den Inhalt anreißt und einschätzt, warum das Buch auf der Liste gelandet ist.

Was ist Tor Online

Tor Online ist ein Onlinemagazin für phantastische Themen. Zweimal die Woche gibt es die SFF News von mir (die leider nicht mehr als News in der Überschrift gekennzeichnet sind), dazu Artikel zu aktuellen phantastischen Themen, zu Filmen, Büchern uvm. Da hinter dem Magazin der Verlag Fischer Tor steckt (der zu S. Fischer gehört) gibt es dort in der Regel keine Rezensionen, da man nicht die Produkte der Mitbewerber besprechen möchte und sich lieber auf themenorientierte Artikel konzentriert.

Und, um mal ein wenig Eigenlob zu bringen, anders als Die Zukunft vom Heyne Verlag, ist Tor Online für alle Genres offen und ignoriert die Fantasy nicht. Es gibt auch keine penetrante Eigenwerbung. Wenn eine Liste mit den fünf besten irgendwas-Romanen erscheint, kann man sich sicher sein, dass nicht alle fünf Romane von Fischer Tor stammen, sondern auch von anderen Verlagen.

Alessandra Reß stellt regelmäßig Genres und Untergenres der Phantastik vor, wie z. B. die Science Fantasy, den Cyberpunk oder ganz aktuelle die Romantasy.

Fantasyblogger wiederum stellt regelmäßig Fünf Fantasybücher mit … vor, darunter immer wieder interessante Themen wie Wikinger, Söldner oder historische Figuren.

Judith Vogt widmet sich gelegentlich heiklen Themen, wie schlechte oder gute Sexszenen in Phantastikromanen. Ansonsten stellt sie herausragende Autorinnen wie N. K. Jemisin oder Ann Leckie vor und hat vor allem feministische Themen und Diversity auf dem Schirm.

Diana Menschig besucht regelmäßig Orte, die ein Nerd besucht haben muss. Wie die Buchandlung Drachenwinkel, das Leipziger Völkerschlachtdenkmal oder die Phantastische Bibliothek Wetzlar.

Um mal ein paar regelmäßig für Tor Online schreibende AutorInnen vorzustellen. Neben den Artikeln erscheinen auch regelmäßig Kurzgeschichten.