Meine Lektüre im Juni

31. Clive Barker – The Great and Secret Show
32. Courtney Schafer – Der Blutmagier
33. Stephen King – Finders Keepers
34. Brian Stavely – Der verlorene Thron
35. Daryl Gregory – Harrison Squared
36. Tim O’Rourke – Ich sehe was, was niemand sieht

Clive Barker – The Great and Secret Show

P1000530

Erstes Buch der Book of the Art (Band 2 ist Everville, 3 steht noch aus), in der ein einfacher Postangestellter im Raum für unzustellbare Post einem Geheimnis auf die Spur kommt, dass ihm nicht nur ungeheure Macht verleiht, sondern auch die Welt an den Rand des Abgrunds bringt. Hat einen saustarken Auftakt, dann nimmt Barker ein wenig die Geschwindigkeit und den Größenwahn raus, aber nur für eine Weile, bevor es dann ein furioses und langes Finale gibt.

Courtney Schafer – Der Blutmagier (Die Chroniken von Ninavel, Band 1 )

P1000539

Schmuggler muss jungen Mann mit Geheimnis (ist ein Blutmagier, kein Spoiler!) über die Berge und die Grenze bringen. Unterwegs will man ihnen allerdings an den Kragen, was die Sache erschwert. Ein erfrischend unspektakulärer und unepischer Fantasyroman, der gegen Ende etwas aufdreht. Wer mehr über das Buch wissen möchte, dem empfehle ich diesen kurzen Beitrag von Gero auf der Bibliotheka Phantastika und die Rezension auf dem Fantasyguide.

Stephen King – Finders Keepers

P1000540

Zweiter Teil der mit Mr. Mercedes begonnenen dreiteiligen Reihe um den pensionierten Cop Bill Hodge, der hier allerdings erst im zweiten Teil auftauchen wird und auch nicht die Hauptfiguren des Romans ist. Hat mir deutlich besser gefallen als Mr. Mercedes. Zunächst ist der Roman eine Anspielung auf das Leben und Werk von J. D. Salinger. Hier geht es um gestohlene (unveröffentlichte) Romanmanuskripte eines berühmten ermordeten Schriftsteller, die viele Jahrzehnte später einen Schüler in Schwierigkeiten bringen. Vor allem im ersten Drittel ist das Buch eine tolle Reminiszenz an die amerikanische Literatur, der Thrillerteil, der darauf folgt, lässt ein wenig nach, das Ende ist dann ziemlich durchschnittlich.

Brian Stavely – Der verlorene Thron (Der unbehauene Thron, Band 1)

P1000538

Eindrucksvoller Debütroman um drei junge Herrscherkinder, deren Vater der Kaiser ermordet wird, was zu allerlei Intrigen, Attentaten und anderen Verwicklungen führt. POVs sind die Tochter und die beiden Söhne, wobei die in der Hauptstadt als Ministerin agierende Tochter etwas zu kurz kommt. Der eine Sohn macht eine knochenharte Ausbildung bei ziemlich schrägen Mönchen, der andere bei einer Elitetruppe von Attentätern. Beide an sehr entlegenen Orten, was dazu führt, dass der Teil der Handlung, den ich schon ab Seite hundert erwartet habe, erst im Finale des Buches kommt. Bis dahin wird die Ausbildung der beiden geschildert, was sehr unterhaltsam und packend geschrieben ist, mit einigen sehr schönen Einfällen, aber die eigentliche Geschichte ein wenig aufhält. Doch trotz des etwas unausgewogenen Balancing was die drei POVs angeht, und das Vorantreiben des Plots, handelt es sich um ein sehr vielversprechendes Debüt, das allseits bekannte Fantasyelemente mit ein paar netten Einfällen und einer packenden Erzählweise mischt.

Daryl Gregory – Harrison Squared

P1000531

Gergorys Afterparty wird ja gerade von Kollege Böhmert ins Deutsche übersetzt. Harrison Squared ist so eine Art Prequel zur Novelle We are all completly fine, in der Harrison als Erwachsener auftaucht. Im vorliegenden Roman ist er aber noch ein Jugendlicher, der mit seiner Mutter in ein sehr merkwürdiges Küstenstädtchen zieht, wo er auf eine noch seltsamere Schule gehen muss. Harrisons Mutter ist Meeresbiologin und auf der Suche nach bisher unbekannten Wesen, zumindest, bis sie verschwindet, dann muss sich Harrison zusammen mit seiner extravaganten Tante auf die Suche nach seiner Mutter begeben. Harrison Squared ist eine sehr stimmungsvolle Hommage an Lovecraft im Stil eines Jugendromans. Wirklich blutig wird es nicht, aber dafür gibt es gekonnt eingesetzten Grusel und eine unheimliche Atmosphäre. Ein sehr lesenswertes Buch für Freunde des weniger blutigen Grusels. Ich glaube, die Chancen stehen ganz gut, dass es auch auf Deutsch erscheinen wird. 😉

Tim O’Rourke – Ich sehe was, was niemand sieht

P1000537

Noch ein Jugendroman, der allerdings geradliniger und weniger komplex ist. Hier geht es um eine Jugendliche, die in sogenannten Blitzen Verbrechen aus der Vergangenheit sieht. Zunächst hält sie es nur für Träume oder so, aber als dann eine dazu passende Leiche gefunden wird, befindet sie sich plötzlich in großer Gefahr. Zum Glück hat sie einen jungen Polizisten, der ihr zur Seite steht. Eine flotte und einfühlsam Lektüre, durchaus spannend, wenn auch wie schon erwähnt vielleicht etwas zu geradlinig. Hat mir jedenfalls viel Spaß gemacht. Übersetzt wurde es übrigens von Kollege Böhmert.

Ulrich Blumenbach über das Übersetzen und Nachwuchsförderung

Der Traum von ewiger »Pralinen-Prosa« – Auf dem Blog Intellectures.de gibt es ein sehr interessantes Interview mit dem renommierten Übersetzer Ulrich Blumenbach – der z. B. Infinite Jest (Unendlicher Spaß) von David Foster Wallace übersetzt hat -, das jeder lesen sollte, der sich halbwegs für die Tätigkeit des Literaturübersetzens interessiert. Vor allem geht es um sein aktuelles Mammutprojekt Witz von Joshua Cohen, das ein gewaltiger Brocken sein muss. Solche Projekte, wie auch das jüngst von Moshe Kahn übersetzte Horcynus Orca, sind eigentlich nur zu stemmen, wenn es eine Förderung für die Übersetzerin oder den Übersetzer gibt, oder im Nachhinein einen dotierten Preis. Die Verlage, die solche Bücher veröffentlichen, zahlen wohl nicht genug, um den enormen zeitlichen Aufwand, den solche fast unübersetzbaren Bücher benötigen, ausreichend zu vergüten.

Besonders bewundere ich Ulrich Blumenbach für seine Nachwuchsförderung, so holt er immer wieder jüngere Kolleginnen für Projekte an Bord, um diese zu fördern, damit sie bei den Verlagen einen Fuß in die Tür bekommen. Das kann man ihm gar nicht hoch genug anrechnen.

In einer Kolumne zur Nachwuchsförderung habe ich beschrieben, dass mir immer wieder das Argument begegnet ist, dass dem von mir empfohlenen Nachwuchs die Erfahrung der Übersetzung anspruchsvoller Werke fehle. Da kann ich nur sagen: wenn sie nie die Chance bekommen, ein anständiges Werk zu übersetzen, dann können sie auch nicht besser werden. Lektoren und erfahrene Übersetzer müssen meines Erachtens gemeinsam Entwicklungschancen für die nächste Generation der Übersetzenden entwickeln und ihnen das Handwerkszeug beibringen.

Lektoren gehen eher auf Nummer Sicher und wählen die 50-jährigen, erfahrenen Übersetzer, statt ihrerseits konsequent eine Nachwuchsförderung zu betreiben. Nach uns, den aktuellen Fünfzigern, klafft aber eine riesige Lücke, und absehbar laufen wir einer Katastrophe entgegen, denn mit siebzig Jahren werden auch wir den Staffelstab weitergeben wollen. Und wenn dann kein Nachwuchs da ist, dann stehen die deutsche Literaturszene und die deutschsprachigen Verlage dumm da. Das zu verhindern, ist Aufgabe von Übersetzern und Verlagen, auch wenn Übersetzer dabei in die schizophrene Lage geraten, möglicherweise an ihren eigenen Stühlen zu sägen.

Ich weiß ja inzwischen aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist, bei Verlagen an Aufträge zu kommen, bzw. überhaupt einmal wahrgenommen zu werden. Ohne Kontakte und Beziehungen läuft da so gut wie nichts. Und das gilt auch für Bereiche, in denen es nicht um so anspruchsvolle Literatur geht, wie Blumenbach sie übersetzt. Ich habe zumindest meine Aufträge für die TV-Dokus für N24 durch einen befreundeten Übersetzer erhalten, der mir diesen Kontakt vermittelt hat. Dafür bin ich ihm immer noch unendlich dankbar, denn ohne die finanzielle Unterstützung durch diese Aufträge, hätte ich die Übersetzerei vermutlich schon längst aus finanziellen Gründen an den Nagel gehangen.

 

Nachtrag: Die im Zitat oben verlinkte Kolumne von Blumenbach ist auch sehr lesenwert. Sie zeigt, dass alles seine Vor- und Nachteile haben kann.

Das Übersetzen von Hochliteratur wird etwas besser bezahlt als das von Unterhaltungsliteratur, kostet aber sehr viel mehr Zeit. Man kann sich in die Armut hochübersetzen, wie Kollege Bernhard Robben mal sagte.

Vertrauen Sie Niemandem: Verschiedenes (6. Juli 2015)

So richtige Lust auf längere und ausführlichere Beiträge ist bei mir bisher noch nicht wieder aufgekommen. Liegt vermutlich an einer Kombination aus Hitze, Arbeit und Freud weiß was. Hier aber mal eine aktuelle Statusmeldung:

Noch in dieser Woche soll die aktuelle Ausgabe der Phantastisch verschickt werden. Diese enthält die Kurzgeschichte Was würde Same Spade tun (What would Same Spade do) von Jo Walton, die ich übersetzt habe. Ist eine stimmungsvolle SF-Hommage an den Hardboiled-Krimi von Dashiell Hammmett (mit einem echt verlotterten Privatdetektiv), und die Anlehnung des Titels an den Spruch What would Jesus do kommt nicht von ungefähr. 😉

ph59-web-big

Noch in dieser Woche soll die aktuelle Ausgabe von Phase X (Nr. 11: Astronomie) in den Druck gehen, deren Erscheinen sich immer wieder verschoben hat, und in der die großartige Kurzgeschichte Verstreut entlang des Himmelsflusses (Scattered Along the River of Heaven) von Aliette de Bodard enthalten ist (ich kenne aktuell kaum jemanden im englischsprachigen Raum, der so tolle Kurzgeschichten schreibt).

px11cover500

Gerade beendet habe ich die Übersetzung von vier neuen Folgen der Dokureihe Mighty Ships, die auf N24 läuft. Da ging es um die größten Rohrleger, Kabelleger und Steinleger (rock dropping vessel) der Welt. Echt jetzt, es gibt Schiffe, deren einzige Aufgabe besteht daraus, Millionen Tonnen von Gestein auf den Meeresboden zu werfen (kein Wunder, dass der Meeresspiegel immer weiter ansteigt 😉 ). Die machen das, um den Boden zu begradigen, damit die Rohrleger dann Öl- und Gaspipelines verlegen können. In der vierten Doku geht es um die Wind Surf, eines der größten Segelschiffe der Welt, wobei da alles vollautomatisch per Computer läuft und das Schiff auch ohne Segel per Motor fahren kann.

Im Juli läuft auf N24 die Reihe Auf Leben und Tod, aus der ich auch einige Folgen übersetzt habe. Ist so eine Mischung aus Bitte Lächeln und Gesichter des Todes. 🙂

Für Cross Cult übersetze ich gerade eine Kurzgeschichte, die in dem von Jonathan Mayberry herausgegebenen Band Akte X: Vertrauen Sie niemandem im nächsten Jahr erscheinen wird (passend zu der neuen Ministaffel mit Mulder und Sculley). Dabei geht es für mich back to the roots, da die Geschichte von Brian Keene ist, dem ersten Autor, den ich je übersetzt habe.

Das erste Halbjahr 2015 ist für mich als Übersetzer bisher ganz hervorragend gelaufen. Hat mich selbst überrascht, wie gut das terminlich immer hingehauen hat, dass sich die Aufträge nicht zu sehr überschnitten haben.

Im August werde ich übrigens für fünf Tage in Berlin sein (7. bis 12 August), um dem Fantasy Filmfest beizuwohnen. Wer in dieser Zeit in Berlin weilt und Lust hat, mich mal (oder wieder) zu treffen, kann sich gerne bei mir melden.

Meine Lektüre im Mai

27. Melanie Raabe – Die Falle
28. Peter Newman – The Vagrant
29. James L. Burke – Sturm über New Orleans
30. Laird Barron – The Imago Sequence

Ich hinke mit meiner Leseberichterstattung (und den Blogeinträgen generell) leider etwas hinterher.
Dass es im Mai nur vier Bücher geworden sind, von denen auch nur eines wirklich dick ist (der Burke), liegt zum einen daran, dass ich in einigen Kurzgeschichtenbänden gelesen habe, die noch nicht beendet sind, aber vor allem daran, dass ich Ende Mai Abgabetermin für eine Romanübersetzung hatte. Nachdem ich oft den ganzen Tag an sieben Tagen der Woche am Bildschirm meinen Text überarbeitet habe, musste ich in der Freizeit meinen Augen ein wenig Entspannung gönnen. Da habe ich mir dann eher mal eine Serie angesehen.

Melanie Raabe – Die Falle

Das Buch wird ja als deutsche Sensation des Buchführlings 2015 gehandelt, wie z. B. dieser Artikel auf Welt.de zeigt. Rechte in 40 Länder verkauft, Filmrechte ebenso, und alles vor Erscheinen des Buches. Meiner Mutter hat es sehr gut gefallen, ich kann auch verstehen, warum das Buch bei vielen LeserInnen gut ankommt, aber ich bin mit der Geschichte nicht so recht warm geworden, in der es um eine 38-jährige Bestsellerautorin geht, die nach einem tragischen Todesfall (Mord) zurückgezogen in ihrer eigenen Welt lebt. Zumindest, bis sie den Mörder ihrer Schwester zu erkennen glaubt und einen Racheplan schmiedet. Die Falle ist ein sehr psychologischer Thriller, der sich vor allem auf das Innenleben der Protagonistin konzentriert, das Raabe auch wirklich meisterhaft und literarisch anspruchsvoll darstellt. Auch das Buch im Buch, das auf reale Ereignisse anspielt, ist sehr geschickt konstruiert, aber schwächeln tut das Buch in Hinblick auf den großen Racheplan, nicht weil er unbeholfen daher kommt (das war von einer Autorin, die Kontakt zu anderen Menschen scheut, nicht anders zu erwarten), sondern weil er so vorhersehbar ist. Nimmt man die ungewöhnliche Konstruktion mit dem Buch im Buch und den starken Anfangsteil über das Leiden der Protagonistin weg, bleibt ein gewöhnlicher und sehr unspektakulärer Rachethriller, der mich leider völlig kalt gelassen hat.

Peter Newman – The Vagrant

P1000528

Ein wilder Mix aus Fantasy und Science Fiction, in dem ein stummer Held mit Schwert, Baby und störrischer Ziege an der Leine durch eine von Dämonen eroberte und dementsprechend düstere Welt zieht. Ein englischsprachiger Rezensent hat Newmans Schreibstil als »stark« bezeichnet, was man in diesem Fall am ehesten als »schroff« übersetzen könnte. Es ist auf jeden Fall ein ungewöhnlicher (aber durchaus lesenswerter) Stil, der hervorragend zum Inhalt passt. Um diese Mischung inhaltlich einzuordnen, würde ich als Vergleichsreferenzen am ehesten Kings Der dunkle Turm, McCarthys The Road, Gemmels John Shannow und Warhammer heranziehen.

Kleiner Nachtrag: Im Forum der Bibliotheka Phantastika hatte ich ein wenig über mein Leseerlebnis berichtet.

James L. Burke – Sturm über New Orleans

P1000527

Bei vielen Reihen und Serien stellt sich irgendwann eine gewisse Routine ein und die Bücher laufen oft nach demselben Schema ab. Sturm über New Orleans ist der sechzehnte! Teil der (bisher zwanzigteiligen) Reihe um David Robicheaux. Was kann man da erwarten? Ein Meisterwerk! James L. Burke packt seine ganze Wut über die skandalösen Versäumnisse der Regierung während und nach dem Hurrikan Katrina in dieses Buch. Das Ergebnis ist ein spannender und mehr als gesellschaftskritischer Krimi vor apokalyptischer Kulisse.

Schön, dass die Reihe (von der bisher 11 Teile auf Deutsch erschienen sind) neu aufgelegt wird. Ein großes Lob an den Pendragon Verlag (der auch Robert B. Parker veröffentlicht) und die sprachgewaltige Übersetzung des leider schon verstorbenen Georg Schmidt.

Laird Barron – The Imago Sequence

P1000529

Zumindest unter Kennern gilt Laird Barron aktuell als der aufregendste (und beste) Horrorautor. Dieser Band enthält seine ersten Geschichten, die sich nicht unbedingt durch einen originellen Plot auszeichnen, sondern vor allem durch sprachliche Meisterschaft. Wortgewaltig erzeugt Barron eine Dynamik, die kosmischen und sonstigen Schrecken so atmosphärisch und poetisch in den Kopf des Lesers projiziert, dass ihm selbiger mit einem Lächeln auf dem Gesicht explodiert. Nicht alle Geschichten sind gleich gut, aber alle sind lesenswert. Bei Golkonda befindet übrigens die erste Übersetzung von Barron in Arbeit, und mit Jakob Schmidt wurde da ein kompetenter Übersetzer gefunden, der Barrons anspruchsvollem Stil sicher gerecht wird.