Meine zehn liebsten Bücher 2022

Meine Filmliste muss noch warten, da ich mir 2022 noch einige Filme ansehen werde, aber was Bücher angeht, werde ich mit meiner aktuellen Lektüre dieses Jahr nicht mehr fertig werden. Gelesen habe ich insgesamt 51 Bücher (21 davon von Frauen, (so weit ich das überhaupt beurteilen kann), darunter aber auch sechs noch unveröffentlichte englischsprachige Manuskripte, die ich für einen Verlag begutachtet habe, von denen eines dort auch im Sommer/Herbst 2023 erscheinen wird (inzwischen kann ich verstehen, warum Verlagslektor*innen privat nicht viel gelesen bekommen). Alle Rereads habe ich nicht mit einbezogen, sonst hätten es auch noch Perdido Street Station von China Miéville und Die eisige Zeit/Der Tag des Sehers von Steven Erikson auf die Liste geschafft. Tsugumi ist aber schon so lange her, dass ich mich gar nicht mehr an das Buch erinnern konnte.

Bei den zehn Titeln handelt es sich nicht unbedingt um die zehn besten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe, sondern um jene, die mir subjektiv am besten gefallen habe. Sechs Bücher stammen von Frauen, an einem siebten hat eine mitgeschrieben. Die Reihenfolge der Liste hat nichts mit einer Wertung zu tu, sie ist rein zufällig gewählt

Die Flüchtigen | Alain Damasio

Das dürfte eines der besten Phantastikbücher der letzten Jahre sein. Ein sprachliches Wunderwerk, das als Near-Future-Dystopie beginnt und durch seinen kleinen Fantasyanteil im Verlauf ein rebellisches, anarchistisches Herz entwickelt, und das trotz aller anspruchsvollen wissenschaftlichen und philosophischen Exkurse eine herzerrreißende und anrührende Familiengeschichte erzählt.

Großartig aus dem Französischen übersetzt von Milena Adam. Erschienen bei Matthes und Seitz.

Breasts and Eggs | Mieko Kawakami

Schonungslose, aber poetische Geschichte einer jungen Japanerin, die in Armut aufwächst, in Einsamkeit lebt und durch ihre Asexualität Schwierigkeiten hat, ihren Kinderwunsch im starren Konstrukt der japanischen Gesellschaft erfüllt zu bekommen. Hat ein paar Längen bei den Monologen von Natsukos Freunden, die ihre jeweiligen Lebensgeschichten erzählen, liest sich insgesamt aber großartig und liefert Einblicke in die japanische Gesellschaft, die man sonst eher selten bekommt. Noch offener und direkter als in den Romanen von Sayaka Murata, Yoko Ogawa und Banana Yoshimoto.

Die englische Übersetzung stammt von Sam Bett und David Boyd. Es gibt auch eine deutsche Ausgabe von Katja Busson, die als Brüste und Eier bei Dumont erschienen ist.

The Marvels | Brian Selznick

The Marvels von Brian Selznick ist eine wunderbar berührende und außergewöhnlich erzählte Familiengeschichte. Der geschriebene Teil über ca. 200 Seiten fällt etwas ab zu den gezeichneten 400 ersten, kann aber durch seine Auflösung trotzdem überzeugen. Ich kann allerdings auch verstehen, dass noch kein dt. Verlag hier zugegriffen hat, denn das Buch kommt im Format eines Jugendbuchs her, doch diese Liebeserklärung ans Theater, an Shakespeare und ungewöhnliche Familienmodelle dürfte nur wenige Jugendliche ansprechen. Ist eher was für Erwachsene wie mich, die sich gerne außerhalb der üblichen Erzählkonventionen bewegen.

The Impossible City: A Hong Kong Memoir | Karen Cheung

Ein ganz tolles Porträt des jungen Hogkongs von 1997 bis zur Gegenwart. Cheung geht vor allem auf die drastischen Veränderungen im alltäglichen und kulturellen Leben ein. Sie ist eine junge Hongkongerin, deren vertraute Umgebung, die Stadt, die sie so liebt, Stück für Stück in einem autoritären System verschwindet, was wirklich herzzerreißen zu lesen ist. Dabei geht sie aber auch auf die davon unabhängigen sozialen Probleme für junge Menschen ein, wie die Wohnungsnot oder die unzureichende Gesundheitsversorgung im Bereich psychischer Erkrankungen. Die Verhältnisse, unter denen sie jahrelang wohnen muss, sind wirklich gruselig, aber für Hongkong nicht ungewöhnlich. Eine wehmütige Liebeserklärung an eine Stadt, die aber nie so war, wie sie in den Filmen von z. B. Wong Kar-Wai romantisiert wurde. Das Buch bietet uns Leser*innen im Westen, die Möglichkeit, über unser bisheriges Bild von Hongkong zu reflektieren.

The Tender Bar | J. R. Moehringer

Ich habe mich lange nicht mehr so wohl in einem Buch gefühlt, wie in J. R. Moehringers Jugendmemoiren The Tender Bar, einer (sicher romantisch verklärten) Liebeserklärung an die Stammgäste des Publicans in Manhassat, die aber auch seinen Abnabelungsprozess schildert. Großartig, wie er diese unterschiedlichen Menschen mit ihren Eigenheiten beschreibt, die Gemeinschaft, die dort entstanden ist, aber auch die sozialen und finanziellen Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben. Ist aber halt auch so ein typisches autobiografisches Buch eines weißen Autors mittleren Altes. Darüber muss man sich klar sein. So divers wie Clooneys Verfilmung besetzt ist, ist das Umfeld Moehringers in den 70/80er-Jahren nicht gewesen. Leider verfehlt die weichgespülte Verfilmung den Kern des Buchs und lässt die tragischen Entwicklungen einzelner Figuren und das bewegende Kapitel über 9/11 aus. Moehringer ist ein begnadeter Erzähler, der seine eigenen (Fehl-)Entscheidungen erfrischend schonungslos beschreibt.

Tsugumi | Banana Yoshimoto

Das Buch habe ich vor ca. 20 Jahren schon einmal gelesen, konnte mich aber kaum noch an den Inhalt erinnern, nur, dass eine Grube im Garten eine Rollle gespielt hat und es mir gefallen hat. Und das hat es auch bei der Zweitlektüre. Yoshimoto versteht es meisterhaft, kleine Szene und Stimmungen einzufangen, dazu der mehr als interessante Charakter der titelgebenden Tsugumi. Die ist gar nicht die Erzählerin des Romans. Das übernimmt ihre beste Freundin Maria, die im Alter von 19 Jahren aus dem kleinen Küstenstädtchen nach Tokio zieht, aber für einen letzten Sommer noch einmal zu Tsugumi und ihrer Familie zurückkehrt. Was Anlass für viele Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit ist. Die hat Tsugumi in einem stets kränklichen, geschwächten Körper aber mit eisernem Willen und scharfer Zunge verbracht und nicht wenige Menschen mit ihrer unverblümten bis boshaften Art vor den Kopf gestoßen.

Aus dem Japanischen übersetzt von Annelie Ortmanns

Last Night at the Telegraph Club | Malinda Lo

Chinatown/San Francisco 1954, die 17-jährige Lily entdeckt ihre Zuneigung zum eigenen Geschlecht und ihrer Mitschülerin Kath, während die Familie mit dem Red Scare zu kämpfen hat. Einfühlsam und bewegend geschrieben. Liefert interessante Einblicke in die queere Szene dieser Zeit sowie das Leben der chinesischen Einwanderer*innen. Abseits aller Klischees, die über dieses Jahrzehnt kursieren.

Vita Nostra | Sergej und Marina Dyachenko

Hauptfigur Samokhina muss vor Sonnenaufgang nackt im Meer schwimmen, im Winter durch den Park joggen und danach ins Gebüsch pinkeln, um Goldmünzen auszukotzen, mit denen sie Zutritt zu einem Institut erhält, dessen Arbeitsbücher überhaupt keinen Sinn ergeben.

Außergewöhnlicher und sehr gelungener Dark-Academia-Weird-Fiction-Roman in slawischer Erzähltradition des ukrainischen Autorenpaaars Marina und Sergej Dyachenko. Erschien 2007 im russsischen Original, 2018 in der englischen Übersetzung von Julia Meitov Hersey. Gibt es leider nicht auf Deutsch.

Die phantastischen Elemente sind auf sehr ungewöhnliche Weise integriert, mit einem faszinierenden Ansatz, den ich hier nicht spoilern will. Trotzdem scheint mir das in erster Linie ein Buch übers Erwachsenwerden zu sein und dem Unabhängigwerden von den Eltern.

Sergej Dyachenko ist dieses Jahr leider verstorben. Die englische Übersetzung der Fortsetzung erscheint im März 2023 als Assassin of Reality.

Indelible City: Dispossession and Defiance in Hong Kong | Lousia Lim

Lousia Lim über die Jahrhunderte alte Geschichte Hongkongs, den King of Kowloon, die Vernichtung Hongkongs durch die chinesische Regierung und ihr eigenes Verhältnis zur Stadt ihrer Kindheit. Spannend und faszinierend.

Unser Teil der Nacht | Mariana Enriquez

Eine großartige Mischung aus Coming-of-Age-Horror und okkult-verkorkster Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Militärdiktatur in Argentinien. Warnung: Es gibt drastische Gewalt gegenüber Kindern. Im Zentrum stehen Juan und sein Sohn Gaspar. Juan ist ein Medium, das mit einem übernatürlichen Wesen namens „Die Dunkelheit“ Kontakt aufnehmen und dunkle Magie wirken kann. Dafür wird er von einem geheimen, mächtigen Orden ausgebeutet, möchte seinem Sohn dieses Schicksal aber ersparen.

Der Roman ist von der Struktur her postmodern angelegt, seine unterschiedlichen Teile werden nicht in chronologischer Reihenfolge erzählt, setzen sich am Ende aber, wie bei einem Puzzle zusammen. Mal ist er brutal und verstörend, dann gibt es wieder richtig schöne Passagen, mit vermeintlich jugendlicher Idylle. Ein gewaltiges Familienepos, stilistisch herausragend, atmosphärisch dicht und vor allem mal in einem für das Horrorgenre ungewohnten Setting.

Deutsche Übersetzung aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann.