Lesung von Bernhard Hennen in Hilgert

Am Donnerstag den 3. November findet bei mir hier im Dorf eine Lesung mit Bernhard Hennen statt. »Hier im Dorf« ist das kleine Örtchen Hilgert im Westerwald, das zur Verbandsgemeine Höhr-Grenzhausen gehört und ganz in der Nähe von Koblenz und dem ICE-Bahnhof Montabaur auf halber Strecke zwischen Köln und Frankfurt liegt.

Als ich vor drei Jahren aus Berlin zurück in die Heimat zog, freute ich mich auf die idyllische Ruhe, die nahe Natur und die vertraute Umgebung. Doch ich wusste bereits, dass mir das kulturelle Leben in Berlin fehlen wird, denn für Phantasten gibt es in der Bundeshauptstadt dank der besten Buchhandlung dieser und aller anderer Welten – dem Otherland – zahlreiche Lesungen und anderweitige Veranstaltungen und eine relativ gut vernetzte Phantastikszene.

Ich gebe es zu, im Vergleich dazu empfinde ich den Westerwald als kulturelles Brachland, eine Ödnis mit nur wenigen gelegentlichen Lichtblicken. Um so mehr freut es mich, dass sich doch tatsächlich mal ein Fantasyautor in unseren bescheidenen Weiler verirren wird. Bernhard Hennen ist vor allem für seine Elfen-Romane bekannt. Zugegeben, um den ersten Band der Reihe Die Elfen habe ich aufgrund des damals tobenden Völkerfantasyhypes einen großen Bogen gemacht (Die Zwerge von Heitz hatte ich abgebrochen und erst mal keine Lust mehr auf dieses lokal auf Deutschland beschränkte Genrephänomen der Völkerfantasy).

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Bis ich auf dem Buchmessecon in Dreieich eine Lesung von Bernhard Hennen besuchte, auf der er trotz starker Erkältung und fast verlorener Stimme so sympathisch und unterhaltsam rüberkam, dass ich dem Buch doch eine Chance gab. Und was soll ich sagen, ich fand Die Elfen, die Hennen zusammen mit James Sullivan geschrieben hat, großartig. Gar nicht so eine Klischeefantasy, wie ich sie erwartet hatte, sondern sprachlich ausgezeichnet geschriebene tragische und epische Fantasy, die einen Zeitraum von 1.000 Jahren umfasst, mit denkwürdigen Figuren, die vom Autor keine Gnade erhalten.

In diesem Jahr ist mir Bernhard Hennen schon öfters über den Weg gelaufen (auf dem Branchentreffen des PAN-Autorennetzswerks, dem galaktischen Forum der Verlage Fischer/Tor und Knaur, sowie dem Buchmesseconvent), trotzdem werde ich es mir natürlich nicht entgehen lassen, wenn einer von Deutschlands bekanntesten und erfolgreichsten Fantasyautoren im neu eröffneten Bürgerhaus in meinem Dorf Hilgert liest, wo sich jetzt auch die tolle Gemeindebücherei befindet, die mich schon seit Jahrzehnten mit großartigem Lesestoff versorgt.

P. S. Es sollen noch Karten erhältlich sein.

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„Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“ von Becky Chambers

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Im Zuge der Verleihung der Nebula Awards, die in diesem Jahr fast ausschließlich Frauen verliehen wurden, diskutierte man im englischsprachigen Fandom darüber, dass es doch aktuell plötzlich so viele Frauen gebe, die tolle Science Fiction schreiben würden. Was sicherlich auch der Fall ist, nur mit dem plötzlich stimmt das nicht so ganz. Es gab schon immer Autorinnen, die tolle SF geschrieben haben (Leigh Brackett, Ursula K. Le Guin, Octavia Butler, C. J. Cherry, Joanna Russ, Nancy Kress, James Triptree jr. …).

Die Meisten von ihnen sind auch von den 70ern bis in die 90er hinein auf Deutsch erschienen. Nur ist das teilweise in Vergessenheit geraten. In den letzten zehn Jahren hatte ich auch den Eindruck, dass sich deutsche Verlage mit Science Fiction von Frauen eher schwertun (mal abgesehen davon, dass SF generell lange als Kassengift galt). Im Zuge der aktuellen SF-Offensive (Trend zur Science Fiction?) schaffen es anscheinend wieder mehr SF-Autorinnen auf den deutschen Buchmarkt (wenn auch noch nicht alle, von denen ich es mir wünschen würde), aber in den aktuellen Herbstprogrammen der Phantastikverlage finden sich so einige Perlen.

Dazu gehört auch The Long Way to a Small Angry Planet von Becky Chambers, das unter dem Titel Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten gerade bei Fischer/Tor in der gelungenen Übersetzung von Karin Will erschienen ist.

So viel Spaß hat mir schon lange kein SF-Buch mehr gemacht (von mir selbst zuletzt übersetzte Titel mal ausgenommen). Hier gibt es keine großen Zivilisationskriege, keine hochgerüsteten Söldnertruppen, keinen dystopischen Blick in eine nahe Zukunft, keine Wissenschaftler auf einer Hard-SF-Mission, keine Killer, keine Intrigen usw. – nein, hier geht es um die multiethnische Besatzung eines Raumschiffs, das Tunnel baut. Tunnel durch das Universum, Wurmlöchern nicht ganz unähnlich.

Die Wayfarer ist ein solches Tunnelbauschiff mit einer kauzigen und liebenswürdigen Besatzung, was die junge Marsianerin Rosmary, die gerade auf dem Schiff angeheuert hat, aber erst noch rausfinden muss. Da wäre Captain Ashby, der gerne mal ein Auge zudrückt, wenn seine Besatzungsmitglieder die Regeln mal wieder recht kreativ interpretieren. Oder seine Pilotin Sissix, vom echsenartigen Volk der Andrassik, das interessante familiäre Verhältnisse pflegt und seine Zuneigung gerne durch zärtliche Berührungen ausdrückt. Herz und Seele des Raumschiffs ist der sechsbeinige Dr. Koch (im Original Dr. Chef), der Arzt und Koch zugleich ist, und für jede Gemütslage das richtige Gewürz parat hält. Für die ausgelassene Stimmung sorgen die menschlichen Mechaniker Jenks – der eine innige Beziehung zur Schiffs-KI führt – und die junge und freche Kizzy – ein weiblicher McGyver im Weltraum. Dafür, dass die Crew auch immer den richtigen Weg findet, sorgen die Navigatoren Ohan, die aus einem Volk stammen, das auch die Welt hinter dem sichtbaren Weltraum sehen kann (wie es dazu kam, ist auch eine interessante und herzzerreißende Geschichte) und irgendwie mehr als nur eine Person sind. Und selbst das Quotenarschloch an Bord hat seine Daseinsberichtigung: Artis Corbin war zweierlei: ein begabter Algaeist und ein komplettes Arschloch (S. 11).

Ich habe mich an Bord der Wayfarer unter dieser sympathischen Besatzung sofort wohl gefühlt. Jeder trägt sein Päckchen mit sich rum, hat seine Eigenheiten, ist aber auch ein herzliches Mitglied der Familie. Im Prinzip begleiten wir die Crew dabei, wie sie von ihrem letzten Einsatzort zu einem neuen fliegt, der allerdings im Zentrum der Galaxis bei einem Volk liegt, das bisher vor allem durch sein kriegerisches und isolatorisches Verhalten aufgefallen ist. Unterwegs gibt es aber so einige Abenteuer zu erleben. Die Grundstimmung der Geschichte ist eine Wohlfühlatmosphäre, aber genau an den richtigen Stellen, fügt die Autorinnen dann kleine Abenteuer ein, während denen man mehr über die einzelnen Besatzungsmitglieder erfährt, und durch die das Band zwischen ihnen immer stärker geschmiedet wird.

Daneben gibt es aber auch einen faszinierenden Weltenbau und interessante Konzepte, was das Sozialleben und das Verhalten der einzelnen Völker angeht. Becky Chambers setzt weniger auf Action, Spannung und große Effekte, sondern mehr auf den guten alten Sense of Wonder, liebenswürdige Figuren, exotische Welten und Wesen, die kleinen Probleme des Alltags im Weltraum und vor allem auf viel Herz. Das ist intelligente, unterhaltsame Wohlfühl-SF, die zu keinem Zeitpunkt langweilig wirkt, aber auch nie kitschig oder naiv. Mit dieser Besatzung würde ich jederzeit gerne durchs All düsen.

Update 12.20 Uhr:

Unterschreibe das! Einzige Einschränkung: Es geht für praktisch alle Figuren auch ans Eingemachte. Wie es sich gehört, auch bei Optimisten.

Diese Ergänzung äußerte Frank Böhmert auf Twitter.

Das grausame Spiel der Herbstes (Kurzgeschichte)

Am Montag in einer Woche ist Halloween. In der Zeit davor lese ich immer besonders gerne Horrorgeschichten. In diesem Jahr stelle ich zur Abwechslung mal eine kleine Halloween-Kurzgeschichte von mir hier auf den Blog. Das ist meine erste Kurzgeschichte, die ich vor vielen Jahren mal verfasst habe, und die seitdem im Giftschrank schlummert. Man sollte also nicht zu viel erwarten. Ich hatte sie damals als poetisch angehauchte Hommage an Ray Bradbury, Halloween und den Herbst allgemein gedacht. Ob mir das gelungen ist …?

Wie immer für Geschichten auf meinem Blog gilt: Sie ist nicht lektoriert. Es sind acht Normseiten, hier geht es zur PDF-Version (da sind die Absätze besser formatiert). Viel Spaß!

Das grausame Spiel des Herbstes

Die bunten Herbstblätter führten einen wilden Tanz auf, wirbelten um ihn herum, fuhren durch sein Haar und schienen ihm ins Ohr zu flüstern: »Schneller Tom, schneller. Geschwind wie der Wind.«
Und Tom gehorchte. Er trat in die Pedale, als sei der Teufel hinter ihm her. Wie eine Rakete raste er durch die bunte Allee, deren mächtige Bäume als stumme Wächter Geleit standen. Die alten knarzigen Gesichter, von der Zeit in sie hineingebrannt, konnte Tom nicht sehen. Er hatte einen Punkt erreicht, an dem seine Umgebung zu einem rasch zerlaufenden Gemälde verschwamm, dessen Farben mehr und mehr in Bewegung gerieten, je schneller er fuhr.
Wäre er langsamer gewesen, hätte er vielleicht gesehen, wie die alten Wächter mit ihrer harten Rinde missbilligend die gemeißelten Gesichter verzogen, düpiert von der Geschwindigkeit, die er ihnen entgegenwarf. Diese alten hartherzigen Wurzelmeister hassten die Geschwindigkeit, hassten die Bewegung, hassten alles, das schneller war als wachsendes Gras.
Es kam vor, dass die Jüngeren unter ihnen, die Dienste des Windes in Anspruch nahmen, in unheiliger Verbindung mit ihm, einen Ast auf die Straße schnellen ließen, der genau zwischen die Speichen eines vorwitzigen Radfahrers passte; diesen zu Fall brachte und für ein klagendes Gejammer in Rot sorgten.
Doch selbst für die Jüngsten unter den Rindenträgern war Tom zu schnell. Flink jagte er an ihnen vorbei, wie ein Eichhörnchen, das die letzte Nuss des Jahres entdeckt hatte.
»Noch schneller Tom«, riefen die Blätter in ihrer Euphorie. In diesem kurzen Moment, in dem sie von der Herrschaft ihrer hölzernen Meister befreit waren, genossen sie ihr Leben in vollen Zügen. Sie ließen sich vom Wind treiben, schlugen Purzelbäume, schwebten elegant durch die frische Herbstluft, bevor sie endgültig zu Boden fielen, sich dort zum Winterschlaf niederlegten und in ihrem Zerfall wieder zu den Wurzeln ihrer Meister zurückkehrten.
Tom lies sich von der Euphorie anstecken, fühlte sich leicht wie ein Blatt und verlor beinahe den Kontakt zur Erde. Er hatte das Gefühl jeden Moment abzuheben, um befreit von der Schwerkraft wie Ikarus der Sonne entgegen zu fliegen.
In anderen Spähren schwelgend sah er nicht das kleine schwarze Fellbündel, auf das er unaufhaltsam zuraste.
Mit einem verzweifelten Satz schaffte es Sir Francis, um Haaresbreite dem rotmetallenen Ungetüm zu entkommen. Der Kater machte einen Buckel, sträubte das Fell und fauchte in Toms Richtung. Der einäugige Pirat war ein reizbarer Geselle mit nachtragendem Gedächtnis, der den lieben langen Tag nichts anderes tat, als verstohlen durch die Stadt zu streifen, um mit seinen scharfen Krallen alte Rechnungen zu begleichen. Tom konnte sich auf einige schmerzhafte Kratzer gefasst machen.
Doch im Moment raste Tom unbekümmert weiter durch diesen magischen Tag. Die Dunkelheit erkämpfte sich langsam die Vorherrschaft, und lies die vielen ausgehöhlten Kürbisköpfe in ihrem irren Grinsen erleuchten. Halloween lag in der Luft, eine Armee von verrotteten Zombies, unheimlichen Geistern, hungrigen Vampiren, klotzköpfigen Trollen und vielen anderen Schrecken der Nacht bereitete sich auf die Schlacht vor.
Das alles kümmerte Tom nicht. Er machte sich nichts aus Süßigkeiten und dem anderen Zeugs, er wollte nur schneller werden. Er musste schneller werden. Heute würde er es schaffen. Er konnte es spüren, fühlte es in seinen Beinen, die sich wie unaufhaltsame Tretmaschinen in einem rasanten Rhythmus auf und ab bewegten.
Er jagte durch die altehrwürdigen Straßen von Lunaville, die sich auf diesen einen Tag mehr freuten, als auf alles andere. Mit seinen schmucken Giebelhäusern, den aus uraltem europäischen Stein erbauten gotischen Gebäuden, seinen verwinkelten Villen und schattigen Spukhäusern, wirkte die Stadt als sei sie nur für diesen einen Tag im Jahr erbaut worden. Reisende, die eine Nacht in der eigenwilligen Stadt in den Tiefen Neuenglands verbrachten, würden dem ohne zu murren zustimmen. Wer diese Nacht überlebte, konnte sich glücklich schätzen. Wenn der wahnsinnige Mond sein Licht über die Stadt warf, veränderte er die Bewohner, und das nicht zum Guten.
Das einzig Wahnsinnige an Tom war die Geschwindigkeit, mit der er die Bradburystreet hinunter heizte. Vorbei an dem riesigen Friedhof, den es stetig nach neuen Bewohnern dürstete. Wer in Lunaville geboren wurde, der wurde hier auch begraben. Meist früher als erwartet. Der Lost Souls Cemetary war eine Erfolgsgeschichte, die seit über dreihundert Jahren andauerte, und die erst enden würde, wenn er die gesamte Stadt aufgefressen hatte.
Als Tom den Friedhof, mit seinem gewaltigen schmiedeeisernen Tor voller tödlich scharfer Spitzen passierte, gab er nochmal extra Gas. Seit sein Großvater Abraham hier vor vier Jahren an einem stürmischen Herbstnachmittag beerdigt worden war, fürchtete er diesen Ort mehr als alles andere. Tom hatte damals etwas abseits der anderen Gäste gestanden, die eine schwarzgekleidete Masse bildeten, deren mickrige Regenschirme gegen den orkanartigen Sturm hilflos ankämpften. Es war der Wind, der Tom immer weiter nach hinten trieb, bis er über einen grauen Grabstein stolperte. Mit einem ekligen Platschen fiel er in den Matsch und starrte auf die Inschrift.

»Tom Frost
Geliebter Sohn
und leidenschaftlicher Radfahrer.
1955 – 1967«

Vor Entsetzen hätte er sich fast in die Hose gepinkelt. Im gleichen Moment sprang ihn ein schwarzes Monster an. Mit einem fiesen Fauchen landete es auf seinem Schoß. Jetzt pinkelte er sich tatsächlich in die Hose, sprang erschreckt auf und stieß den alten Kater von sich. Dann rannte er in panischer Angst zurück zu seinen Eltern.
Den Friedhof hatte er nie wieder betreten und stets einen großen Bogen darum gemacht. Doch er war so riesig, dass man an ihm einfach nicht vorbeikam. Er war das Herz der Stadt, die sich um ihn herum ausbreitete.
Deshalb trat Tom nun besonders schnell in die Pedale, als könne er seinem Schicksal dadurch entkommen. Seine Eltern hatten ihn nicht gefragt, warum er bei Großvaters Beerdigung so verschreckt war. Sie dachten, es wäre die Trauer, und Tom hatte nie mit jemandem über diesen Vorfall gesprochen.
In Lunaville sprach man nicht über den Tod, denn er war allgegenwärtig. Besucher beschrieben die Stimmung in der Stadt als morbide und verließen sie eilig mit bleichen Gesichtern und einem unguten Gefühl in der Magengegend.
Toms Magen war an die Geschwindigkeit gewöhnt. Er seufzte erleichtert auf, als er den Friedhof hinter sich gelassen hatte, obwohl er immer noch spürte, wie er nach ihm rief.
Direkt hinter dem Friedhof kam Tom in den ältesten Teil der Stadt. Die Häuser waren noch älter und boshafter, die Schatten bedrohlich düster, die Bäume strahlten puren Hass aus und die Bewohner bekam man bei Tageslicht nicht zu sehen.
Tom wusste, dass er durch diesen Teil fahren musste, wenn er es rechtzeitig schaffen wollte, aber am liebsten wäre er auf der Stelle umgekehrt. Da war ihm sogar der alte Friedhof mit seinen unruhigen Bewohnern lieber.
Die Sonne verschwand gerade am Horizont, die Straße wurde enger und die Häuser rückten zu bedrohlichen Schemen über ihm zusammen, als wollten sie sich jeden Moment auf ihn stürzen, um ihn mit ihren, von rostigen Nägeln gespickten, Holzzähnen zu zerfetzen.
Hier gab es keine erleuchteten Kürbisse und selbst die wagemutigsten kleinen Gespenster trauten sich nicht hierher. Hier gab es für alle nur Saures. Als hätte die Hölle vor langer Zeit einen Außenposten errichtet, der langsam zerfiel.
Nebel kroch herauf und schränkte Toms Sicht ein. Hunderte dünne, nasse Tentakel griffen nach ihm, tasteten sich an seiner Kleidung entlang und schlüpften durch die Ritzen, um auf seiner empfindlichen Haut einen eiskalten Schrecken zu verbreiten. Tom schüttelte sich, kam fast aus dem Tritt, konnte sich aber wieder fangen.
Hatte er vor kurzem noch geschwitzt, schien der salzige Schweiß nun zu gefrieren. So kalt durfte es hier eigentlich nicht sein, doch die Thermik in Lunaville hatte ihre eigenen Gesetze.
Was als gut gelauntes Radrennen durch die malerische Kulisse eines farbenfrohen Herbstes begann, hatte sich zu einer undurchsichtigen Hetzjagd durch eine Alptraumlandschaft entwickelt.
Der Nebel wurde immer dichter und wandelte sich von einem klaren Weiß in ein düster schimmerndes Grau. Die Häuser und Bäume verschwanden hinter dieser undurchdringlichen Mauer. Tom konnte nur noch die Straße direkt vor sich sehen. Er fuhr fast blind und seine Augen begannen, ihm Streiche zu spielen. Zumindest hoffte er das.
Er glaubte, im Nebel Gesichter zu erkennen. Hässlich verzerrte Fratzen, die wabernd auf ihn zuglitten; die Augen vor Schreck geweitet, den Mund zu einem ewig lautlosen Todesschrei aufgerissen – Gesichter des Todes.
Doch Tom ließ sich nicht beirren, er wurde noch schneller, schoss mit waghalsiger Geschwindigkeit in dieses graue Nichts hinein. Er kannte die Strecke; kannte sie so gut, dass er sie mit geschlossenen Augen fahren könnte.
Plötzlich klatschte ihm etwas hart ins Gesicht, holte ihn fast vom Rad. Er kam ins Schlingern, hielt aber das Gleichgewicht. Dann schon wieder – Klatsch. Er schmeckte Blut auf seiner Zunge. Spuckte ein Blatt aus. Die Bäume versuchten, ihn mit ihren Ästen zu erwischen. Er beugte den Oberkörper dicht über die Lenkstange und fuhr weiter. Nichts konnte ihn aufhalten. Er glaubte das Echo der wirbelnden Blätter zu hören: »Schneller Tom. Schneller.«
Die Gesichter verschwanden, aber kurz bevor er aus dem Nebel schoss, sah er ganz nahe ein einzelnes, boshaft starrendes Auge aufleuchten, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Darin hatte er den Tod erkennen können.
Tom spürte einen kleinen Schlag am Fahrrad. Ein Schlagloch vermutlich. Er schwankte kurz, behielt aber das Gleichgewicht.
Dann war der Nebel fort. Vor sich sah er die steil abfallende Mainstreet, die auch jetzt noch stark belebt war. Er hatte keine Zeit zu zögern, jetzt oder nie. Der letzte Teil des Weges war erreicht.
Wie wahnsinnig trat er in die Pedale, schrie dabei aus vollem Halse und raste der Kreuzung am Fuße der Straße entgegen. Der Fahrtwind zerrte an ihm, verschluckte seinen Schrei und brachte ihn ins Wanken. Aber Tom fuhr weiter. Er würde es schaffen. Dabei grinste er wild, als er sich auf den letzten Metern der belebten Kreuzung näherte.
Als er sie erreicht hatte, schloss er die Augen und ließ sich treiben.
Fast hätte er es geschafft. Er war so gut wie drüber, als er plötzlich einen starken Schmerz in der Schulter spürte. Etwas hatte ihn von hinten angesprungen, vom Gepäckträger aus; trieb scharfe Krallen in sein junges Fleisch. Ein bösartiges Fauchen ertönte direkt neben seinem Ohr. Er schüttelte sich, warf das schwarze Etwas von sich herunter.
Das alles dauerte nur wenige Sekunden, aber es brachte ihn von seinem angepeilten Kurs ab. Es war nur eine kleine Kurskorrektur, doch sie reichte, damit ihn der weiße Milchlaster von Ed Hayes am Hinterrad erwischte. Das Fahrrad wurde augenblicklich zur Seite weggerissen. Tom flog mit dem Kopf voran gegen den parkenden Buick von Pater William Butler. Mit einem hässlichen Klatschen, das der gerade aussteigende Geistliche den Rest seines Lebens nicht vergessen würde, prallte Toms Kopf auf den Kofferraumdeckel und zerbarst. Tom war sofort tot.
Er stand neben sich, sah seine Leiche und schluchzte. Leichtfüßig trippelte Sir Francis zu dem leblosen Körper, steckte die Zunge in die sich ausbreitende Blutlache, fuhr sich dann genüsslich über die Lippen und blickte mit einem boshaften Grinsen zu Toms Geist hinauf.
Tom bebte vor Zorn und Verzweiflung. Er hatte es schon wieder nicht geschafft. Genau wie in den letzten Jahren, hatte ihn dieser Tod auf vier Beinen an Halloween zur Strecke gebracht; hatte dafür gesorgt, dass sich dieses grausame Spiel auch im nächsten Jahr wiederholen würde.

Wo man mich trifft: Bucon 2016

Zugegeben, ich bin etwas reisefaul. Wenn ich erst mal unterwegs bin, finde ich es super und freue mich, aufgebrochen zu sein, doch oft mangelt es mir an der Motivation, den Arsch hochzubekommen. Dementsprechend besuche ich, obwohl ich ja seit Jahren im Phantastikfandom unterwegs bin, relativ wenige Cons, weder Dortcon, Elstercon oder was weiß ich. Die große Ausnahme bildet der Bucon, den ich seit über zehn Jahren ohne Unterbrechung durchgehend besucht habe.

Das hat einen einfach Grund: Nirgendwo sonst treffe ich so viele meiner Freund und Bekannten aus dem Phantastikfandom auf einem Haufen (und er liegt mit einer Fahrtstunde auch relativ nah an meinem Heimatort). Dementsprechend wenig besuche ich die Programmpunkte der Veranstaltung, da jede dort verbrachte Stunde, eine ist, in der ich kein spannendes Gespräch führen kann. Allerdings sind Lesungen auch nicht so mein Fall.

Für Freundinnen der phantastischen Literatur, insbesondere der Fantasy, die ihre Lieblingsautorinnen und Autoren gerne live erleben, bietet das Programm des Buchmesse Convent allerdings ein reichhaltiges Angebot, dass mit seinen inzwischen sieben Programmschienen (einst war es mal nur drei) und über 50 Programmpunkten (aus Lesungen, Vorträgen und ähnlichem) schon an eine Reizüberflutung grenzt. Neben bekannten Autoren wie Markus Heitz, Bernhard, Hennen, Kai Meyer uvm. haben auch relativ unbekannte AutorInnen die Chance sich in Dreieich einem Publikum zu präsentieren. Das reicht von AutorInnen wie Ivo Pala, Ju Honisch und Julia Lange (Irrlichtfeuer hier kürzlich besprochen),die im neuen Programm von Knaur Fantasy erscheinen, bis zu jenen, die in Kleinverlagen wie Amrun, Verlag Torsten Low oder dem Verlag ohneohren veröffentlicht werden. Für deutschsprachige FantasyautorInnen ist der Bucon schon fast eine unverzichtbare Veranstaltung geworden. Von einem kleinen Treffen mit weniger als 100 Besuchern hat er sich inzwischen schon fast zum Mekka der deutschsprachigen Fantasy mit vielen hundert Teilnehmern gemausert.

Hier geht es zur kompletten Programmübersicht.

Was: Buchmesse Convent (kurz Bucon) 2016

Wann: Samstag den 22. Oktober 2016

Wo: Bürgerhaus Dreieich-Sprendlingen (nicht weit von Frankfurt, wer eh auf der Messe ist, kann auch einen Abstecher hierher wagen.)

Auf die parallel stattfindende Frankfurter Buchmesse werde ich nicht fahren, dafür fehlt mir leider die Zeit. Wer aber aufs GaFo geht, könnte mich dort antreffen.

Und wer mich bisher nur virtuell kennt, aber gerne mal live erleben möchte, der darf mich gerne auf dem Bucon ansprechen. Ich bin recht schüchtern und zurückhaltend, freue mich aber immer über neue Bekanntschaften bzw. darüber, Menschen, die ich bisher nur als Avatar mit Nickname kenne, auch im richtigen Leben kennenzulernen. So in etwa dürfte ich am Samstag aussehen (sollten nicht noch irgendwelche unvorgesehene Ereignisse eintreten, die mir Flügel oder Hörner wachsen lassen):

Hier wohnt der sich in ungewohnt freier Wildbahn befindende Übersetzer andächtig der Verleihung des Deutschen Phantastik Preises (DPP) bei.

Hier wohnt der sich in ungewohnt freier Wildbahn befindende Übersetzer andächtig der Verleihung des Deutschen Phantastik Preises (DPP) bei. Der in diesem Jahr Gerüchten zufolge von einem gewissen Dirk van den Boom im Hawaiihemd moderiert werden soll.

Licht und Schatten – Quartett vs. Quarktett

Gestern habe ich mir das Lesenswert Quartett und das Literarische Quartett angesehen. Zwei Sendungen, in den jeweils vier Menschen über Bücher diskutieren. Die eine total verkrampft und verfahren, ohne wirklichen Erkenntnisgewinn und einem Autor als Gast, der eine völlige Fehlbesetzung war; die andere das gewohnt unterhaltsame und Lust auf Bücher machende Lesenswert Quartett mit Felicitas von Lovenberg, Denis Scheck, Ijoma Mangold und Insa Wilke als Gast. Hier erlebt man ein eingespieltes Team von Büchernarren, die sich gegenseitig schätzen und respektieren, auch wenn sie nicht immer einer Meinung sind.

Im Literarischen Quartett muss man drei Menschen zusehen, die sich anscheinend nicht leiden können, keinerlei Respekt vor der Meinung des anderen haben und nicht in der Lage sind, mal eine angeregte und anregende Diskussion über das zu führen, was angeblich ihre Leidenschaft ist. Weidermann wirkt noch immer so nervös wie in der ersten Sendung und ist dem durchaus unterhaltsamen Ekel Maxim Biller zu keiner Zeit rhetorisch gewachsen. Westermanns Beiträge bestehen meist darin, das Gesicht bei Billers Spitzen angewidert zu verziehen. Der tritt stets unglaublich arrogant auf, ist aber auch der einzige unterhaltsame Diskutant in der Sendung, dem es gelingt, seine Begeisterung für ein Buch auch verbal zu formulieren und auf mich als Zuschauer zu übertragen. Der bräuchte jemanden wie Scheck als schlagfertigen Gegenpol.

Was auch auffällt, im Literarische Quartett sprechen sie oft von brillanter Sprache, erwähnen aber, anders als das Lesenswert Quartett, fast nie die ÜbersetzerInnen. Hat Glavnici den Burnside, dessen großartige Sprache er so lobt, jetzt im Original gelesen oder in der Übersetzung von Bernard Robben?

Das Literarische Quartett anzusehen,  ist wie eine Deutschstunde, in der man eine Dreiviertelstunde lang das Referat eines unvorbereiten Schülers ertragen muss, über ein Buch , das er nie gelesen hat, und nur aus einem dürftigen Wikipediaeintrag oder (wenn man Glück hat!) aus der Verfilmung kennt.

Bücher, an denen mein Interesse geweckt wurde:

Ismail Kadare – Die Dämmerung der Steppengötter
John Burnside – Wie alle anderen
Colm Tóibín – Nora Webster

Und Meine geniale Freundin lese ich gerade.

P.S. Marc Reichwein (von Welt.de) hat beim Ansehen des Literarischen Quartetts offenbar ähnlich empfunden: „Eine Katastrophe, dass wir hier reden müssen.“

„Irrlichtfeuer“ von Julia Lange

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Vor einigen Monaten hab ich hier im Blog die Frage gestellt, wo die Frauen in den phantastischen Verlagsvorschauen für den Herbst seien, und bin dann etwas genauer auf die Programme der einzelnen Verlage eingegangen, mit der Ankündigung, mich intensiver mit den phantastischen Autorinnen zu beschäftigen und bis Ende des Jahres nur noch Bücher von Frauen hier zu besprechen. Jetzt sind die ersten Neuerscheinungen aus den Programmen da, allerdings hat sich seit den ersten Beiträgen zu dem Thema mein Interessengebiet mehr auf zeitgenössische französische Autorinnen verlagert.

Und da ich jemand bin, der nur das liest, worauf er gerade Lust hat, und nicht, was er vor einigen Monaten mal geplant hat, und da mich auch niemand für meine Beiträge hier bezahlt, widme ich mich momentan nicht ganz so intensiv der aktuellen Phantastik von Frauen, wie versprochen.

Doch so ganz möchte ich das Thema nicht ruhen lassen, denn da erscheinen ja aktuell einige spannende Bücher. Demnächst werde ich z. B. das wunderbare Buch Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten von Becky Chambers besprechen. Doch den Anfang macht das Fantasydebüt der jungen deutschen Autorin Julia Lange, das im neuen Programm von Knaur Fantasy erschienen ist:

Als hätten sich Jules Verne, die Gebrüder Grimm und Hayao Miyazaki in einem gemeinsamen Traum gefunden.

Schreibt Christoph Marzi in seinem Blurb auf der Rückseite des Buches. Und mit Miyazaki liegt er gar nicht so falsch, zumindest was das Setting angeht. Eine europäische Großstadt, die an das Wien oder das Prag des 19. Jahrhunderts erinnert, mit gepflasterten Straßen und engen Gassen, Brücken aus Stein und Schornsteine von Fabriken, die in irrlichterndem Blau leuchten, während in den Schatten ein Hauch von Magie vorbeihuscht. Eine junge Frau, die vom Fliegen träumt, und entgegen aller Widrigkeit ernsthaft daran arbeitet, ihren Traum zu verwirklichen. Dazu ein junger Mann, der durch einen Unfall zum Irrlichtkind wurde und nun im Militär dient, das von der schnöseligen Obrigkeit für deren egoistischen Zwecke missbraucht wird. Und natürlich die Straßenbanden, um den Grafen, der wie Don Corleone durch den Stadtteil Rothentor flaniert, jeden grüßt, jeden kennt, und die Stadt von unten regiert, wenn ihm nicht gerade sein rebellischer Sohn Kummer bereitet oder die verletzte Hüfte zwickt.

Städtefantasy ist ja durchaus ein eigenes Genre (als Urban Fantasy würde ich eher Geschichten zählen, die in moderneren Metropolen spielen), das sich besonders gerne im viktorianischen London ansiedelt. Bei Viktoria Schlederers Des Teufels Maskerade (übrigens auch mit Blurb von Christoph Marzi hinten drauf) war es das Wien der KuK-Zeit. Irrlichtfeuer spielt im fiktiven Stadtstaat Ijsstedt, der mich sowohl von den Namen als auch der Architektur an Prag erinnert.

Es herrscht Monarchie, die Adligen und Wohlhabenden lassen es sich in ihren schmucken von Irrlichtfeuer beheizten und beleuchteten Häusern gut gehen und frönen dem gesellschaftlichen Leben auf prachtvollen Bällen, während die einfachen Bürger in den gemeingefährlichen Irrlichtfabriken ausgebeutet werden. Nachdem es zu einer Katastrophe in einer der Fabriken kommt, bei der viele Menschen sterben, bahnt sich ein Volksaufstand an. Und wie der Zorn des Volkes es so will, richtet sich die Wut zunächst auf eine andere benachteiligte Minderheit: die Irrlichtkinder, die als Soldaten die Regierung beschützen, ansonsten aber in einem goldenen Käfig gehalten werden.

Dabei verfolgen wir die Geschehnisse abwechselnd aus den Perspektiven der oben angedeuteten Figuren wie Alba, dem Grafen, dem Irrlichtkind Kas oder der trauernden und zornigen Meret. Die großen Stärken des Romans sind die dichte Atmosphäre, die starken Figuren, das interessante Magiekonzept und der angenehm unaufgeregte Handlungsverlauf ohne große Effekthascherei.

Es gibt durchaus ein paar kleine Kritikpunkte, die aber größtenteils in die Kategorie Geschmackssache fallen. So sind mir die Szenen teilweise zu detailliert beschrieben. Mir ist klar, dass das vor allem Atmosphäre und Stimmung erzeugen und den Leser in eine lebendige Geschichte mit plastischen Schauplätzen ziehen soll (was auch gelingt), doch stellenweise geht es schon so ins Detail, dass dadurch der Lesefluss beeinträchtigt wird. Auch mit den Wiederholungen einiger Gegebenheiten übertreibt es die Autorin ein wenig, z. B. wenn es um die Hüftprobleme von Karel (dem Grafen) geht. Klar, muss das thematisiert werden, weil es um die schwindende Stärke des Bandenanführers vor seinen »Mittbewerbern« geht, die er versucht zu überspielen, aber es muss auch nicht jedes Mal so zelebriert werden.

Ansonsten gehört es aber zu den Stärken des Romans, dass es »HeldInnen« mit körperlichen Schwächen gibt, die insgesamt eine große Rolle in diesem Roman spielen und die bei Alba schon extrem einschneidend sind, und ihren Hauptantrieb für ihr Handeln, den Traum, fliegen zu können, darstellen.

Was mir auch gefehlt hat, ist ein wenig Spannung, nicht in Form von Cliffhangern, sondern eher in Form von Geheimnissen, die es zu ergründen gilt. Das hätte sich in der Stadt und diesem Szenario gut angeboten, aber eigentlich weiß man als Leserin immer, was Sache ist. Das macht den Roman jetzt nicht schlechter, da er durch die dichte Atmosphäre und seine interessanten Figuren gut getragen wird, hat aber auch dafür gesorgt, dass ich relativ lange daran gelesen habe. Also wie gesagt, die Kritikpunkte machen das Buch für mich nicht schlechter, aber wenn es im nächsten Buch von Julia Lange noch ein Prise Spannung und ein Hauch von Geheimnis geben würde, könnte mir das Buch noch mehr Spaß machen.

Nichtsdestotrotz ist Irrlichtfeuer ein tolles Romandebüt, mit dichter Atmosphäre, spannenden Figuren – allen voran die starken Frauen -, einem sehr interessanten und originellen Magiekonzept und einer soliden Sprache, die relativ funktional daherkommt, mit einigen altmodischen Begriffen wie z. B. Fensterlaibung aber noch zusätzlich für Stimmung sorgen. Die Handlung des Buchs kann man durchaus als abgeschlossen und eigenständig bezeichnen, ob noch mehr Romane aus dieser Welt geplant sind, weiß ich nicht, ich hätte aber nichts dagegen.

Mein erster Ausflug ins neue Programm von Knaur Fantasy und Science Fiction hat sich schon mal gelohnt, und zusammen mit Ken Lius Das Schwert von Dara und Die Legende von David Gemell, die ich beide schon im Original gelesen haben, verheißt er Gutes, was den Rest des Programms angeht.

„Sagan, Paris 1954“ von Anne Berest

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Buch Nummer sieben meiner Frankreich-Reihe, und das vierte von einer Autorin. Anfangs hatte ich Schwierigkeiten, überhaupt zeitgenössische französische Autorinnen zu finden, jetzt im Bücherherbst purzeln sie reihenweise von den Bäumen. Dabei wollte ich im Halloween-Monat Oktober vor allem Horror lesen. Doch was soll ich machen, die französischen Autorinnen haben mir den Kopf verdreht.

Anne Berest ist bei uns vor allem als Co-Autorin des Ratgebers How to be a Parisian bekannt, schreibt aber auch Romane. Jetzt im Herbst erscheint Emilienne oder die Suche nach der perfekten Frau auf Deutsch, wodurch ich auch auf sie aufmerksam geworden bin (das Buch kommt demnächst dran).

Sagan, Paris 1954 ist leider nicht auf Deutsch erschienen, weshalb ich auf die englische Übersetzung von Heather Loyd zurückgreifen musste, die sich stilistisch ganz großartig liest. Und was für ein Buch! Nur 170 Seiten, aber davon jede ein Genuss. Dabei ist gar nicht so einfach zu erklären, um was für eine Art von Buch es sich handelt. Dennis Westhoff, der Sohn der berühmten französischen Autorin Françoise Sagan hatte Berest darum gebeten, ein Buch über seine Mutter zum 60. Jubiläum ihres enorm erfolgreichen Debütroman Bonjour Tristesse zu schreiben.

Herausgekommen ist eine Mischung zwischen Roman, Autobiografie und fiktionalisierter Biografie. Berest beschreibt die wenigen Monate vor und nach der Veröffentlichung des Buchs im Jahr 1954, was Sagan so getrieben hat, mit ihren Freunden, wie sie ihr Manuskript bei drei Verlagen persönlich vorbeibringt und an der Rezeption abgibt, wie sie daraufhin überraschenderweise telefonisch Rückmeldung erhält, und was für ein »Wahnsinn« sich danach entfaltet.

But she heaved a sigh: so that was what sucess meant, a long series of obligations.

Doch mittels Forshadowing lässt Berest auch den unbedarften Leser (also mich) wissen, wie es in den folgenden Jahren mit François Sagan weiterging, die im Jahre 1954 ja erst 18 Jahre alt war. Und auch sich selbst und ihr Leben bringt die Autorin mit ein, denn Westhoff hatte darum gebeten, dass sie auch darüber schreiben möge, was die Arbeit an diesem Buch mit ihr macht. Das ähnelt Delphine Vigans Vorgehensweise in Das Lächeln meiner Mutter, auch wenn Berest keinen persönlicheren Bezug zu Sagan hat, als den einer Leserin.

Um noch mal auf den fiktionalisierten Teil zurückzukommen, sie hat schon viel recherchiert, alle Biografien gelesen, Sagans Sohn Fragen geschickt und sich mit ihrer besten Freundin getroffen, aber manches schildert sie so, wie es sich zugetragen haben könnte. Wie zum Beispiel die Szene, in der François Sagan dem Radioaufruf von Abbé Pierre folgt, den erfrierenden Obdachlosen im Land zu helfen, die Opfer der extremen Kältewelle wurden. Wobei sie Sachen, die wirklich passiert sind, auch mit Endnoten (also Fußnoten, nur am Ende des Buchs) belegt.

Kürzlich habe ich hier ja Marguerite Duras Der Liebhaber besprochen, und spannenderweise kommt in dem Buch auch diese Autorin vor, die ihr Debüt schon ein Jahr 1953 zuvor veröffentlicht hat, Sagans Erfolg aber erst dreißig Jahre später gleichkommt. Sie beide gehörten viele Jahre dem gleichen Freundeskreis an.

Es wird gar nicht so viel in Sagan, Paris 1954 erzählt, aber das so wunderbar, dass ich das Buch kaum aus den Händen legen konnte. Ich bin schon sehr auf die Romane von Anne Berest gespannt.

Mir war gar nicht bewusst, was für ein Erfolg und was für ein Skandal das Buch Bonjour Tristesse in Frankreich seinerzeit gewesen ist, und ich bin erstaunt welche Hochachtung Anne Berest diesem Buch, der Geschichte darum und der französischen Literatur insgesamt entgegenbringt. Kann ich mir in Deutschland so nicht vorstellen. Es zeigt, dass die Literatur mit ihren vielen wichtigen Preisen in Frankreichnoch mal einen anderen Stellenwert hat als bei uns.

Sagan, Paris 1954 ist ein Buch darüber, wie François Sagan gewesen ist, wie sie gewesen sein könnte, und, was sie anderen – insbesondere der Autorin – bedeutet. Es ist aber auch ein Buch darüber, was es heißt, Schriftstellerin zu sein, Berests Brief an den jungen Mann gegen Endes des Buches ist brillant und ergreifend, und so ist Sagan, Paris 1954 vor allem ein sehr persönliches Buch über Anne Berest.

Ob das alles stimmt, was sie da über sich schreibt, ist wieder eine andere Sache, vielleicht ist es ja auch eine fiktionalisierte Autobiografie, aber das spielt keine Rolle. Ob Wahrheit oder nicht, es ist eine verdammt gute Geschichte, ein verdammt gutes Buch, und darauf kommt es mir als Leser an.