Die meisten Near-Future-Serien scheitern daran, eine emotionale Bindung zum Zuschauer zu schlagen (siehe zuletzt The Feed). Sie konzentrieren sich zu sehr auf einen bestimmten technischen oder dystopischen Aspekt, der zu viel Raum einnimmt und das Setting kalt und distanziert wirken lässt. Was fehlt, sind emotionale Bezugspunkt für die Zuschauer. Years and Years gelingt das Kunststück mit Bravour. Auch, wenn man sich in den ersten Minuten noch in seichten Gefilden á la Eastenders wähnt, ist man schnell Teil dieser herzlichen Familien, in der die vier Geschwister, die von ihrer Oma großgezogen wurden, mit ihrem Anhang per moderner Technik in Telefonkonferenzen in engem Kontakt bleiben und sich jährlich zu Feierlichkeiten im Großelternhaus treffen.
Der große Knall, der die im Jahr 2019 beginnende Handlung auf eine ganz andere Ebene hebt, kommt gegen Ende der ersten Folge. Doch da hat mich die Serie so gepackt, dass ich sie innerhalb kürzester zeit durchgebingt habe.
Über fünfzehn Jahre begleiten wir die britische Familie Lyons dabei, wie sie sich mit den teils drastischen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, sozialen Verwerfungen und dem technischen Fortschritt herumschlagen müssen, bis sie schließlich unter dramatischen Umständen ums nackte Überleben kämpfen. Dabei kommt es immer wieder zu Black-Mirror-Momenten im besten Sinne, aber immer ganz beiläufig und natürlich in die Handlung eingeflochten. Für den obligatorischen bitterbösen britischen Humor sorgt Emma Thompson als populistische Politikerin á la Trump.
Homosexualität, Diversität, Transhumanismus, soziale Segregation, Ausbeutung, Flucht, Populismus, gewaltsame Revolutionen in demokratischen EU-Staaten, Verfolgung, Atomschläge, Pandemien – sieht man diese Liste, die man noch gut weiterführen kann, könnte man meinen, die Serie, mit ihren nur sechs Folgen, sei thematisch völlig überfrachtet. Ist sie aber nicht. Alles sind Puzzleteile, die ein stimmiges Gesamtbild führen, das einen beeindruckenden und vor allem beängstigend realistisch Blick auf die nächsten fünfzehn Jahre wirft.
Russell T. Davis (Schöpfer des Doctor Who-Revivals) nimmt ganz aktuelle Entwicklungen vom Brexit, antidemokratischen Strömungen und sozialen Verwerfungen und extrapoliert sie ganz behutsam konsequent aus Perspektive einer einzigen Familie und deren Umfeld. Er bleibt stets in der Mikroperspektive, das Weltgeschehen erfahren wir nur aus den Nachrichten und sozialen Medien.
Doch das Herzstück der Serie ist die Familie mit ihrer Dynamik und die Entwicklung der einzelnen Familienmitglieder zueinander über fünfzehn Jahre. Durch deren Augen erleben wir die Zukunft, die für sie einige schöne aber auch viele dramatische bis tragische Entwicklungen bereithält.
Das alles ist so fulminant und mitreißend inszeniert, wie es nur wenigen Serien in den letzten Jahren gelungen ist. Auf der Liste der 50 besten Serien 2019 des Guardian ist Years and Years auf Platz 4 direkt hinter Succession, Fleabag und Chernobyl gelandet, und das zurecht (wobei ich Chernobyl auf Platz 1 gesetzt hätte).
Aber Vorsicht, aufgrund der aktuellen Pandemie und deren gesellschaftlichen Folgen, ist die Serie momentan sicher nicht für alle geeignet, da sie ja doch ein wenig Angst vor der Zukunft macht. Und Angela Merkel sollte sie besser auch nicht sehen. 😉
Years and Years lief vor einem Jahr bei der BBC, bei uns ist sie seit Anfang des Jahres auf dem Streamingdienst Starzplay verfügbar. Abonniert man den Channel bei Amazon bis zum 31. März, zahlt man die ersten drei Monate jeweils nur 1 Euro pro Monat (jederzeit kündbar). Und Starzplay hat noch eine Menge andere großartige Serien wie Vida, Sweetbitter, Counterpart, Mr. Mercedes oder Black Sails im Angebot.