Gegenrede: Fantasy ist phantasievoller und vielseitiger denn je

Vor einigen Wochen habe ich mich gefragt, wo mein Sense of Wonder beim Lesen von (vor allem) phantastischer Literatur, insbesondere der Fantasy, hin ist. Warum ich mich während der Lektüre nicht mehr ganz so für die Geschichte begeistern kann, wie früher? Warum mir die Immersion nicht mehr so gut gelingt, das Kopfkino fader ausfällt? Im Prinzip also, warum mir die Fantasy früher besser gefallen hat bzw. ich mehr Spaß mit ihr hatte?

Gesamtausgabe von "Erdsee" auf einem Esstisch stehend.

Aber so ganz kann das gar nicht stimmen. Zumindest steckt hier ein Paradoxon drin, denn die Fantasy, die ich früher gelesen habe, die mich geprägt und begeistert hat, ist doch eine ziemlich einseitige Angelegenheit: Sie wurde zu 80% von weißen Männern aus England, den USA und Deutschland geschrieben und findet zu 90% in Settings statt, die ans europäische Mittelalter angelehnt ist. Die Ausnahme heißt Ursula K. Le Guin – zumindest in meinen Bücherregalen.

Dabei gab es auch schon vor Jahrzehnten Autor*innen of Color: Samuel R. Delany, Charles Robert Saunders, Octavia Butler … Aber ich habe sie erst sehr viel später entdeckt, und wirklich viele, die veröffentlicht wurden und bei uns in Deutschland dann auch erhältlich waren, sind es nicht gewesen.

Heute sieht das anders aus, vor allem auf dem englischsprachigen Markt. Da hat es in den letzten Jahren geradezu eine Explosion an diversen Autor*innen gegeben (of Color, aber auch non-binärer und trans Autor*innen), die Fantasy (und Science Fiction) in phantastischen, vielseitigen Settings schreiben, die nicht eurozentrisch und altbacken sind. In Deutschland hängt diese Entwicklung knapp zehn Jahre hinterher.

E-Book-Cover von "Babel"

Und genau diese Autor*innen sind es, die mich heute am meisten begeistern können. Die besten Fantasyromane, die ich dieses Jahr gelesen habe, sind Babel von Rebecca F. Kuang (hier meine Besprechung) und The Jasmine Throne von Tasha Suri (siehe hier), das in einem faszinierenden indischen Setting spielt. Tolle Urban Fantasy im Shanghai der 1930er gab es noch mit Shanghai Immortal von A. Y. Chao.

Letzteres habe ich für einen Verlag begutachtet, konnte ihn aber leider nicht dafür begeistern. The Jasmine Throne hat letztes Jahr den äußerst renommierten World Fantay Award gewonnen, der stets anspruchsvolle und originelle Phantastikbücher auszeichnet, aber leider noch keinen deutschen Verlag.

Und hier wären wir bei einem kleinen Problem: Von der Vielfalt an aufregender Fantasy kommt bei uns nur ein Bruchteil an (von den Schwierigkeiten deutschsprachiger Autor*innen of Color und anderer Marginalisierter ganz zu schweigen). Die Verlage versuchen es durchaus, das bekomme ich aus erster Hand mit (auch wenn ich mir hier noch etwas mehr Mut wünschen würde), aber oft verkaufen sich diese Titel nicht gut (Babel ist eine überraschende Ausnahme), sprich, sie werden von der deutschsprachigen Leserschaft immer noch nicht in einem ausreichenden Masse angenommen. Die liest vorwiegend lieber mehr vom Gleichen, in nur leichten Variationen.

Bei mir ist es gerade diese Vielfältigkeit, die Diversität, die Settings (die ich früher vielleicht mal als exotisch bezeichnet hätte), der kulturelle Background der Autor*innen, was mein Feuer für Fantasy wieder entfachen kann, weil es eben nicht mehr der gleiche eurozentrische, von Tolkien oder Conan beeinflusste klassische Fantasykram ist, der mir irgendwann zum Hals rausgehangen hat. Robert Jordan, Terry Goodkind, Raymond Feist, R. A. Salvatore, Tad Williams, Michael Moorcock (der ein bisschen aus der Reihe tanzte), George R. R. Martin, Dave Eddings (später Scott Lynch und Joe Abercrombie), das sind die Autoren, mit denen ich aufgewachsen bin, die bei mir damals den Sense of Wonder auslösten, den ich heute ein wenig vermisse. Vermutlich, weil der Versuch, ihn mit dem gleichen Zeugs wie früher wiederzufinden, scheitert, weil es eben das gleiche Zeuges wie früher ist. Und für das ist der Sense of Wonder verbraucht (außer die Nostalgie hilft etwas nach).

Aber so ganz verschwunden ist er nicht, denn wenn ich Autor*innen wie Ken Liu, Rebbecca F. Kuang, N. K. Jemisin, Sofia Samatar Tasha Suri, Nnedi Okorafor, Kai Ashante Wilson, James Sullivan oder Marlon James lese (oder Tade Williams, Aliette de Bodard, G. Willow Wilson in der SF), glimmt dieser Funke für den Sense of Wonder wieder auf. Bisher habe ich ihn einfach nicht ausreichend genutzt. Obwohl ich so langsam gemerkt habe, dass alle Fantasy jenseits der eurozentrischen Settings (oder jene, die neue Perspektiven hineinbringt) mich viel mehr begeistern kann, lese ich doch viel zu wenig davon. Das muss sich ändern.

Und auch viele weiße Autor*innen sind inzwischen bemüht, ihre Fantasygeschichten diverser aufzustellen, neuen Settings auszuprobieren, die alten Tropen aus dem Fenster zu schmeißen, hinterfragen ihre privilegierten Positionen, öffnen sich empathisch für die Perspektiven anderer und sind auch bemüht, dies mit der notwendigen Sorgfalt anzugehen, auch wenn es da noch viel Nachholbedarf gibt (Stichwort Sensitivity Reading, wobei das eigentlich Aufgabe des Verlags ist).

E-Book-Cover von "A Stranger in Olondria".

Vieles an Fantasy (und SF) was auch früher schon diverser aufgestellt war, ist heute leider in Vergessenheit geraten. Trotzdem würde ich behaupten, dass wir aktuell im Golden Age of Fantasy leben, denn eine phantasievollere, vielseitigere, abwechslungsreichere und kulturell bereichernde Fantasy hat es meiner Meinung nach zuvor noch nicht gegeben. Und viele dieser Autor*innen können wirklich gut schreiben, haben tolle, vielschichtige, komplexe und tiefergehende Geschichten zu erzählen.

Das Problem liegt also einzig bei mir. Das Gefühl, alles schon irgendwie gelesen zu haben, ist eben das: nur ein Gefühl. Es gibt noch so viel mehr zu entdecken. Auf geht’s …

Fazit

Also, statt mich zu beklagen, dass mir beim Lesen von Fantasy die Phantasie abhandengekommen ist, sollte ich mir genauer anschauen, welche Romane mir noch einen Sense of Wonder bereiten, und dann nach ähnlichen Werken suchen. Dass ich das bisher nicht getan habe, liegt an meiner Philosophie, keine zwei Bücher aus einem Genre hintereinander zu lesen, weil ich die Abwechslung liebe. Aber vielleicht ist genau das, das Problem, denn das Genre-Hopping ist zur Routine geworden, obwohl es ja eigentlich für Abwechslung und Überraschungen sorgen sollte. Die Zeiten, in denen ich sechs Bände einer Fantasyserie am Stück verschlungen habe, sind sicher vorbei, aber mal zwei, drei am Stück lesen, damit die Immersion wieder intensiver wird und ich mich besser auf die Welt einlassen kann, ist vielleicht keine schlechte Idee.

Früher als Kind kam mir die Welt unendlich groß vor, der Besuch in einer Buchhandlung oder einer Videothek wie der Besuch in einer unermesslichen Schatzkammer. Mit dem Größerwerden ist die unmittelbare Welt um mich herum geschrumpft, aber die Welt der Fantasyliteratur ist massiv gewachsen. Hier lohnt der Blick über den Scheibenweltrand. Und vielleicht kann ich mich dann wieder so klein wie früher fühlen, in der großen weiten Welt, und ihr mit unbändigem Staunen begegnen.

Naja, so eine richtige Gegenrede war das jetzt gar nicht, eher eine Ergänzung.