Erscheinen zu viele Bücher? (Teil 1 von 2)

Auf Facebook und Twitter schrieb Karla Paul kürzlich:

Heute die ersten Mails zu den Herbstvorschauen erhalten und weine jetzt inmitten der teils noch ungelesenen Frühjahrsstapel leise vor mich hin. 100.000 Neuerscheinungen jährlich (ungefähr, Selfpublishing unklar), 3 Monate Zeit zum Abverkauf, noch vor ET Abschreibungstitel (und die Autor_Innen wissen nichts davon), auch das gehört zum Buchmarkt. Puh. Ich freue mich für jeden, der heute eine Chance auf Veröffentlichung erhält, aber hunderttausend Titel jedes Jahr, das ist einfach viel zu viel. Diese Massen will doch eigentlich keiner, und dass dann ein Großteil sogar vernichtet werden muss, totaler Wahnsinn!

Leider kann ich nicht auf den Beitrag und die wirklich hochinteressante Diskussion darunter, an der sich viele Profis aus dem Buchbereich beteiligen, verlinken. Vieles, was ich hier aufführe, wird dort auch erwähnt. Da müsst ihr auf Facebook einfach bei Karla Paul vorbeischauen.

Ausgehend davon werde ich versuchen in diesem Beitrag der Frage: Erscheinen zu viele Bücher? aus verschiedenen Perspektiven nachzugehen. Aus Sicht der Leserin, der Autorin, der Übersetzerin, des Verlages und des Buchhandels. Da der Text ziemlich lang geworden ist, teile ich ihn in zwei Blogeinträge auf. Los geht es mit der Perspektive der Autorinnen und der Verlage. Ich benutze inzwischen übrigens nur noch die weibliche Form als die allgemeine Form für beide Geschlechter, wenn keine konkrete Person gemeint ist.

Autorin

Im letzten Jahr habe ich selbst einen Roman geschrieben (na ja, zumindest eine erste Fassung) und befinde mich nun auf der Suche nach einer Literaturagentur. Bücher sind schon seit der Kindheit meine große Leidenschaft, es gibt nichts, was ich lieber tue, als Bücher zu lesen. Schreibversuche habe ich in den letzten 15 Jahren immer wieder unternommen, unzählige Projekte begonnen, die ich irgendwann unweigerlich für Mist gehalten habe und auf Eis legte.

Erst mit dem Buch, das ich im letzten Jahr geschrieben habe, hatte ich von Anfang bis Ende das Gefühl, dass es etwas taugt, dass es gut ist, dass ich hier etwas Besonderes habe. Ich bin als der Meinung, dass ich hier ein Buch habe, das es wert ist, veröffentlicht zu werden. Von dem ich glaube, es könnte vielen Lesern gefallen. Weshalb ich es auch gerne veröffentlicht sehen würde, trotz der Unzahl an anderen Titeln.

Entsprechend frustrierend gestaltet sich die Suche nach einer Agentur, wenn auch nach Ablauf der auf deren Homepage angegebenen Bearbeitungsfrist keine Rückmeldung kommt. Glücklich können sich also jene schätzen, die eine Agentur finden. Doch damit ist es nicht getan, denn diese müssen dann auch erst einen Verlag finden, der von dem Projekt überzeugt ist.

Verlag allein reicht noch nicht

Hat man es dann tatsächlich geschafft, einen Verlag zu finden, den Vertrag unterschrieben und den ersten Coverentwurf erhalten, ist man vermutlich überglücklich. Doch auch dann ist das Buch noch nicht beim Leser. Denn erstmal muss der Vertrieb überzeugt werden, die Verlagsvertreter. Wenn die sagen: Das bekomme ich nie im Leben im Buchhandel unter, ist der Roman schon so gut wie tot (nicht immer, aber vermutlich oft). Von den zehn Titeln im Verlagsprogramm schaffen es vielleicht sieben genügend Vorbestellungen aus dem Buchhandel zu erhalten.

Die drei, die es nicht schaffen, gelten als sogenannte Abschreib- oder Wegfalltitel. Die werden vom Verlag schon vor dem Erscheinungstermin als Flop verbucht und der Verlag macht keine Webung mehr dafür. Ich habe mal ein Buch für einen großen Publikumsverlag übersetzt, da hat der Verlag am Erscheinungstermin nicht einmal auf seiner Facebook-Seite erwähnt, dass das Buch heute erscheint. Nicht mal zwei Minuten Arbeit in einen kleinen Beitrag investiert.

In der Facebook-Diskussion bei Karla Paul schreibt Autorin Jenny Benkau:

Ich bekam das erste Mal die (ehrliche, aber schmerzhafte) Ansage einer Programmchefin, ich müsse mich nicht so rein hängen, für das Buch würde eh nichts getan werden, da hatte ich 100 Seiten Text, der Verlag noch gar nichts, es gab weder Titel noch Cover. In der Programmkonferenz hatte man aber schon entschieden, dass der Schwerpunkt anders liegen würde.

Sich auch im Buchhandel durchsetzen

Und selbst wenn das Buch im Handel und bei den großen Ketten wie Thalia und Hugendubel landet, weil die Einkäufer davon überzeugt sind, oder die Verlage sich auf die Präsentationstische eingekauft haben, heißt das noch lange nicht, dass das Buch bei der Leserschaft ankommt. Ich habe auch mal einen Spitzentitel für einen großen Publikumsverlag übersetzt, für den ganz viel Werbung gemacht wurde, der kommt auf nicht mehr Amazon-Rezensionen als der oben erwähnte Abschreibtitel und dürfte als massiver Flop verbucht worden sein.

Möchte man als Autorin bei einem Verlag veröffentlichen, sollte man sich all dessen bewusst sein. Verlagsvertrag heißt noch lange nicht, dass das Buch auch erfolgreich wird oder überhaupt halbwegs viele Leserinnen findet. Auch als Übersetzer finde ich es frustrierend, wenn ein Buch erscheint, und es dann kaum Feedback in Form von Buchbesprechungen oder zumindest Kurzrezensionen erhält.

Diejenigen Autorinnen, die von ihren Büchern leben können, sind eine kleine Minderheit. Das sind die ganz, ganz wenigen Bestellerautorinnen, von denen sich ein Titel so gut verkauft hat, dass sie von den Tantiemen oder dem Vorschuss die Arbeit an ihren nächsten Werken finanzieren können. Aber auch die sogenannten Midlistautorinnen, die sich etwas oder deutlich unterhalb der Bestsellerlisten bewegen, und mehr als ein Buch pro Jahr schreiben müssen, einfach weil die Vorschüsse pro Buch zu niedrig sind. Um mal eine Vergleichsgröße zu nennen, damit man sich das vorstellen kann. Wenn man im Phantastikbereich als halbwegs bekannter Autor einen Vorschuss von 5.000 Euro erhält, kann man sich schon glücklich schätzen (damit meine ich jetzt nicht die Oberliga wie Hennen, Heitz oder Meyer, die bekommen deutlich mehr). Mann kann sich also ausrechnen, wie viel Bücher jemand veröffentlichen muss, der eventuell noch eine Familie zu ernähren hat. Bernd Perplies erwähnte in der Facebook-Diskussion etwas von drei bis vier Büchern pro Jahr.

Immer kürzere Verkaufsspannen

Die Spannen, in denen ein Buch Zeit hat, erfolgreich zu werden, haben sich deutlich verkürzt. Selbst, wenn man also im Handel angekommen ist, bleibt nicht viel Zeit, eine Leserschaft zu finden, denn die nächsten Titel stehen schon in den Startlöchern. So wie im Kino viele Filme schon nach zwei Wochen wieder von der Bildfläche verschwinden, findet man auch viele Bücher nach zwei, drei Monaten nicht mehr in den Buchhandlungen. Sogenannte Longseller, die sich über ein ganzes Jahr kontinuierlich gut verkaufen, werden immer seltener. An meinen Abrechnungen sehe ich, wie schnell nach Erscheinungstermin die Verkaufszahlen zurückgehen.

Und als deutschsprachige Autorin konkurriert man ja nicht nur mit allen anderen Autorinnen aus dem deutschsprachigen Raum, sondern einer riesigen Fülle an übersetzten Schriftstellerinnen – oft aus dem englischsprachigen Raum.

Fazit für Autorinnen

Was Autorinnen angeht, erscheinen also einerseits viel zu viele Bücher, die in Konkurrenz zu den eigenen Titeln stehen, andererseits hat sich in den letzten Jahren auch unglaublich viel getan, was die Veröffentlichungsmöglichkeiten angeht. Ich erinnere mich noch an Zeiten, da hatte man als deutschsprachiger Science-Fiction- oder Thrillerautorin keine Chance bei den Publikumsverlagen.

Erscheinen aus Autorinnensicht also zu viele Bücher? Das ist vermutlich nicht so einfach zu beantworten. Die Chancen, einen Verlagsvertrag zu erhalten haben sich erhöht, die Chancen, sich auf dem Markt durchzusetzen eher verringert. Da kommt es wohl darauf an, mit welcher Motivation man ans Schreiben rangeht, wie hoch die Frustrationstoleranz ist und wie groß das Durchhaltevermögen, es immer und immer wieder zu versuchen.

Verlage

Verlage kaufen natürlich keine Bücher ein, von denen sie glauben, sie würden sich nicht gut verkaufen. Warum sollte man das tun? In dem Moment, in dem das Buch gekauft wird, glaubt die Redaktion, oder zumindest ein engagierter Lektor, der einen Titel frei hat oder so, an das Buch. Doch die Verlage wissen auch, dass sich nicht alle Titel eines Programms gut verkaufen werden (in der Regel zwei Programme pro Jahr: Frühjahr/Sommer und Herbst/Winter). Meist nur ein ganz kleiner Teil.

Durch die oben erwähnten Prozesse wie Vertreterkonferenzen, Vorbestellungen oder einfach einen Gesamtblick auf alle Titel im Programm, kristallisieren sich langsam jene Titel heraus, die am meisten Erfolg versprechen. Und die werden dann natürlich gepusht. Verlässliche Bestellerautoren sowieso, die bekommen teilweise sogar richtig aufwendige Marketingkampagnen (wie Markus Heitz z. B. mit seinem Des Teufels Gebetsbuch inklusive Pokerturnier im Spielkasino als Lesungsevent), dazu noch die vielversprechendsten Neuautoren, die z. B. schon in den USA Bestseller waren (wie z. B. Leigh Bardurgos Das Lied der Krähen, um mal bei der Fantasy zu bleiben).

Verlage kaufen Bücher, von denen sie glauben, dass sie sich gut verkaufen werden. Das kann auch dazu führen, dass ein richtig gutes Buch abgelehnt wird, weil es nicht ins Programm oder zum aktuellen Trend passt. Das kann auch dazu führen, dass man nicht so gute Bücher kauft, einfach weil sie thematisch einem Bestsellertitel ähneln (oder man ihnen einen hundert Buchstaben langen Titel geben kann, der irgendwann aus dem Fenster steigt und verschwindet).

Ende der Trendwelle?

In der Phantastik bzw. dem Untergenre Fantasy gab es Anfang der 2000er Jahre eine wahre Erfolgswelle an sogenannter Völkerfantasy, ausgelöst durch Stan Nicholls‘ Die Orks, Markus Heitz‘ Die Zwerge und Bernhard Hennens Die Elfen, die alle im Bugwasser der Herr der Ringe-Verfilmungen einen Trend auslösten, der ungefähr zehn Jahre anhielt. Folglich warfen die Verlage alles auf den Markt, was man unter Titeln wie Die Goblins, Die Trolle, Die Drachen, Die Gartenzwerge usw. vermarkten konnte.

Oder man denke an all die Thriller mit archäologischen Rätseln, die im Zuge von Dan Browns Erfolgsroman Sakrileg erschienen. All die Vampirromane nach der Biss/Twilight-Reihe von Stephanie Meyer, all die Pseudoerotikschmonzetten im Stil von Shades of Grey, die Jugenddystopien nach den Hunger Games bzw. Die Tribute von Panem, die deutschen Krimiautoren, die plötzlich französische Namen bekamen und all die Selbstoffenbarungen nach Karl Ove Knausgårds Mein Kampf-Zyklus.

Hier reagieren viele Verlage auf die Logik der Leserinnen, die eben gerne mehr vom Gleichen lesen möchten. Und zum Teil funktioniert das auch. Bis zu dem Titel, der gerade dann erscheint, wenn die Erfolgwelle bricht und zurückschwappt.

Solche „Trittbrettfahrerinnen“, die sich an Bestsellertitel ranhängen, werden selbst in den seltensten Fällen zu Bestellern, aber sie sind Titel, mit den man halbwegs zuverlässig kalkulieren kann, weil man von einem erwarteten Mindestabsatz ausgehen kann.

Aktuell fehlt es ein wenig an Trends. Für kurze Zeit dachte man, Science Fiction wäre der nächste, doch die nahm in den letzten Verlagsprogrammen schon wieder deutlich ab. Aktuell soll Nature Writing ein Trend sein, wobei mir nicht ganz klar ist, was überhaupt damit gemeint ist (Peter Wohlleben?).

Was tun, ohne Trends?

Wenn es keine Trends gibt (was so nicht ganz stimmt, kleine Tendenzen gibt es immer), keine Überbesteller, die andere Werke mitziehen, können Verlag zwei Sachen machen. Auf bewährte Autoren setzen, die verlässlich mehrmals im Jahr leichte Durchschnittskost produzieren und sich damit ganz ordentlich verkaufen. Oder sie suchen nach neuen Trends. Da man aber nicht weiß, was erfolgreich wird, muss man ganz viel einkaufen, in der Hoffnung, dass sich darunter der eine Überraschungserfolg befindet. Denn garantierte Bestsellerautoren wie Dan Brown oder Ken Follett veröffentlichen nur alle paar Jahre ein Buch.

Veröffentlichen Verlage aus eigener Sicht also zu viel? Schwer zu sagen. Dadurch, dass sie immer mehr Titel rausbringen, wird das Kuchenstück für den einzelnen Titel immer kleiner, bis für manche nicht mal ein paar Krümel übrig bleiben.

Dadurch, dass immer mehr Titel immer schneller produziert werden, sinkt auch die Qualität, weil Autoren, Lektoren, Übersetzern und Korrektoren die Zeit fehlt, gründlich zu arbeiten, oder sie müssen schneller arbeiten, weil die Honorare so niedrig sind.

Qualität statt Quantität?

Könnte man mehr auf Qualität statt Quantität setzen? Würden sich einzelne Titel besser verkaufen, wenn es nicht so viele Konkurrenztitel im eigenen Verlagsprogramm und bei den Mitbewerbern befinden würden? Könnte man dann den Autoren und Übersetzern höheren Honoraren zahlen und langfristiger ohne Zeitdruck planen?

Ich weiß es nicht. Es sind ja nicht nur die starren Programmplätze bei den großen und bekannten Verlagen. Auch immer mehr Kleinverlage entstehen, oft als Herzensprojekte (und nicht als Imprints großer Konzerne), die vielleicht weniger in die Buchhandlungen drängen (weil sie da gar nicht erst reingelassen werden), auf Amazon aber neben den unzähligen Selfpublishern um die Gunst der Leserinnen buhlen.

Zwar arbeite ich seit einigen Jahren als Freiberufler in der Verlagsbranche und habe einige Einblicke hinter die Kulissen erhalten, aber so ganz umfänglich weiß ich nicht, wie die Programmplanung und die Kalkulationen ablaufen. Ist sicher auch von Verlag zu Verlag unterschiedlich.

Und hier geht es zu Teil 2, darin geht es dann um die Perspektiven des Buchhandels, der Leserinnen und der Übersetzerinnen.

Und hier noch ein zufällig ausgwähltes Foto von Büchern, damit ich ein Vorschaubild für Facebook und Twitter habe. 😉

5 Gedanken zu “Erscheinen zu viele Bücher? (Teil 1 von 2)

  1. Ja, das Dilemma hat jede Industrie und da sind Verlage nichts anderes. Die Menge an Titel braucht es wahrscheinlich um den Marktanteil zu halten, auch wenn das auf Kosten der Qualität gehen kann.
    Man neigt ja selbst als Leser dazu, mehr von dem Stoff zu sich zu nehmen, der einem gefallen hat.
    Also für mich scheint klar, die Verlage kommen aus der „Mehr Bücher“-Falle nur schwer raus.

    • Ich kopiere hier auch mal meine Twitterantwort auf deinen Beitrag hierhin: Finde ich mit „zerstören“ etwas extrem formuliert. Man bekommt vom Verlag ein Honorar, Lektorat, Korrektorat, ein Cover, eine Platz im Programm und im Katalog. Es läuft auch nicht bei allen Verlagen so. Viele brennen auch für alle ihre Autoren. Kann man so nicht pauschalisieren. ch bewundere es , wenn Autoren alles selbst übernehmen, ich könnte und wollte das nicht. Arbeite als Übersetzer auch gerne mit Verlagen zusammen. Auch wenn es hin und wieder Sachen gibt, über die ich mich ärgere. Aber das kann einem überall passieren.

      Ich mag Verlage. Die haben im Verbund mit den Autoren, Lektore usw. in den letzten 30 Jahren zu einer erheblichen Steigerung meiner Lebensqualität beigetragen, indem sie mir unzählige großartige Leseerlebnisse ermöglichten.

  2. toller Beitrag. Freu mich sehr auf den zweiten Teil dazu. Vor allem interessant finde ich das Prinzip der „Trittbrettfahrer. Ich habe nämlich lange gedacht, dass es ein Falschempfinden von mir ist, dass bestimmte Bestseller einen Anstieg im betreffenden Genre bewirken (siehe Twilight, Dystopisches YA und co.)

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