Liebe Buchbranche, wir müssen mal wieder reden: Von Sensitivity Reading, unsensiblem und rassistischem Verhalten und veränderungsunwilligen Strukturen

Die letzte Woche zeigte wieder, dass auch in der Buchbranche, die sich gerne so weltoffen, divers, emphatisch und kulturell gibt, immer noch viel Nachholbedarf in Sachen Rassismus, Diskriminierung und Selbstkritik besteht.

Dieser Beitrag bezieht sich auf eine Veranstaltung der IG Belletristik und Sachbuch sowie des Börsenvereins des deutschen Buchhandels zum Thema Sensitvity Reading. Hier ein kurzer Bericht des Börsenblatts dazu, der die Abläufe aber wohl ziemlich verzerrt darstellt (wie die Überschrift schon befürchten lässt). Auf ihren Twitter-Accounts schildern die beiden Betroffenen Victoria Linnea und Jade S. Kye, was dort vorgefallen ist (am besten durch die Accounts scrollen, da es mehrere Threads zum Thema gibt). Auf Facebook gibt es einen differenzierten und selbstkritische Beitrag von Karin Schmidt-Friderichs (aber Warnung, die Kommentare darunter lesen sich teils ziemlich gruselig und zeigen exemplarisch, was noch alles schiefläuft).

Was ich so alles von der Veranstaltung mitbekommen habe, und was zwei der Teilnehmerinnen, die Expertinnen zu dem Thema und Peoples of Color sind, da durchmachen mussten, zeigt mir, so toll viele meiner Kolleg*innen in der Buchbranche auch sind, ein gewisser und leider nicht unbeträchtlicher Teil der immer so auf den gesellschaftlichen Wert des Kulturgutes Buch bedachten Branche scheint weiterhin aus a) unsensibeln Trampeln und b) rücksichtlosen Arschlöchern zu bestehen, die bewusst von Diskriminierung betroffene Menschen vor den Kopf stoßen und verletzen. Eine Branche, die sich nach außen gerne divers gibt und mit Büchern diverser Autor*innen schmückt, im Inneren aber nicht bereit ist, eigenes rassistisches Verhalten und eigene rassistische und diskriminierende Strukturen auch nur ansatzweise zu hinterfragen und zu reflektieren, geschweige denn zu reformieren.

Statt den Betroffenen und Expert*innen zuzuhören, werden diese in aggressiven Abwehrkämpfen lieber diffamiert oder ins Lächerliche gezogen. Statt sich auf das Thema einzulassen, dessen Nutzen zu erkennen und damit zum kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritt beizutragen, wird lieber ein diffuser Freiheitsbegriff der Autorenschaft beschworen. Statt den Mehrwert eines konstruktiven Miteinanders zu nutzen, wird jeder Vorschlag zur Verbesserung als Angriff auf die eigene Person, den ach so heiligen Status Quo und das eigene Weltbild gesehen. Ein Weltbild, in dem sie sich als Vertreter*innen eines intellektuellen Habitus sehen, der für moralisch überlegenen bzw „gute“ Werte stehen soll, aber eigentlich nur privilegierte Bequemlichkeit ist.

Bei besagter Veranstaltung kritisierte eine Literaturkritikerin in der Keynote, Sensitvity Reading würde die Autorenschaft infrage stellen. Und keine*r der anwesenden Lektor*innen sprang auf und fragte, ob das für sie dann auch gelte?

Als Tokens werden Sensitivty Reader und PoC in bester Greenwashing-Manier gerne hinzugeholt. Doch wenn es um konkrete Veränderungen der Strukturen geht, stören sie mit ihrer „emotionalen und aggressiven Art“ dann doch eher. Das mit solchem Verhalten auch enormes wirtschaftliches Potenzial verschenkt wird, darauf gehe ich hier jetzt nicht weiter ein (empfehle aber die Lektüre von Hether McGhees The Sum of Us: What Racism Costs Everyone and How We Can Prosper Together – auch zwei Jahre nach Veröffentlichung nicht auf deutsch erschienen), denn die eigentlichen Gründe für solche Veränderungen sollte ein respektvoller Umgang von allen Menschen mit allen Menschen sein; der Wille, mit dem Kulturgut Buch auch wirklich zu einer besseren Welt beizutragen und der Wunsch, niemanden mit seinem Werk/Produkt/Handeln zu verletzten (was nicht heißt, dass es keine kritische und provokante Literatur mehr geben darf).

Bei Büchern geht es doch auch darum, die Welt zu entdecken und sich mittels Empathie in die Perspektive anderer Menschen hineinzuversetzen. Es ist wirklich erschreckend, wie viele Menschen in der Buchbranche dazu nicht willens oder in der Lage sind.

Für Victoria, Jade und alle anderen Betroffenen tut es mir wirklich leid, dass sie das im Jahr 2023 immer noch ertragen müssen. Wir können daran nur etwas ändern, wenn wir ihnen offen zuhören; nicht einfach betreten Schweigen, wenn ihnen so etwas passiert und sie dann später für ihre „Tapferkeit“ loben; uns und unser Umfeld selbstkritisch hinterfragen und auf die notwendigen Veränderungen aktiv hinarbeiten.

P. S. Auf meiner Seite lesenswelt.de stelle ich ein paar Bücher vor, die dabei helfen können.

P. P. S. Eigentlich sollte das hier nur ein wütender Tweet werden, ist mir dafür dann aber zu lang geworden. So knüpfe ich mit der Überschrift an meinen Beitrag Liebe Buchbranche, wir müssen reden! Wenn Selbstausbeutung existenzbedrohend wird an.

P. P. P. S. Bei Sensitivity Reading geht es nicht nur um Rassismus, auch Ableismus und andere verletztenden oder traumatisierende Themen können Gegenstand sein. Hier ein Artikel dazu.

P. P. P. P. S. Unterstützen könnte ihr Jade und Victoria auf Ko-fi oder, indem ihr ihnen anständig bezahlte Aufträge anbietet (und damit sind keine pauschalen 300 Euro für das Sensitivity Reading eines kompletten Buchs gemeint).

Disclaimer: Ich arbeite selbst in der Buchbranche, freiberuflich als Übersetzer und in der Chefredaktion des Phantastik-Online-Magazins Tor Online, das zu Fischer Tor/S.FIscher gehört.

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