„Klauen“ uns Netflix und Co. die Zeit zum Lesen?

„Uns allen brechen die Leser weg. Noch 2012 hat sich jeder Mensch hierzulande statistisch gesehen mindestens einmal pro Jahr ein Buch gekauft. Diese Reichweite hat sich praktisch halbiert“, sagt Piper-Verlagschefin Felicitas von Lovenberg gegenüber dem Buchreport.

Auch die Buchhandlung Otherland aus Berlin schreibt, dass sich Netflix, Amazon und Co. bemerkbar machen würden. Gemeint ist damit, dass Menschen, die bisher viel Zeit mit Lesen verbracht haben, immer mehr auf Serien aus Streamingangeboten umsteigen, bzw. größere Teile ihrer Freizeit dafür reservieren (sich also Marktanteile verschieben).

Serien hat es schon immer gegeben, auch Phantastikserien. Akte X war in den 90ern ebenso ein Straßenfeger wie Star Trek – Next Generation oder Babylon 5. Geändert hat sich die Fülle des Angebots und seine Verfügbarkeit. Was bei mir die Frage aufwirft, ob die steigende Zahl an Phantastikserien und vor allem auch an Serienadaptionen von Büchern nicht dafür sorgt, dass insgesamt weniger Phantastikbücher gelesen werden?

Phantastik ist jetzt Mainstream

Es gab schon immer erfolgreiche Phantastikfilme und Serien, doch dank der modernen Tricktechnik, die seit Ende des letzten Jahrtausends, seit der Matrix– und Herr der Ringe-Trilogie enorme Fortschritte gemacht hat und günstiger geworden ist, gibt es eine Flut an Phantastikserien und Filmen (mit und ohne Superhelden). Wer mal sehen möchte, was aktuell an phantastischen Serien läuft, sollte sich diese beiden Listen von Armin Rößler zu Superheldenserien und allgemeinen Phantastikserien ansehen. 90! aktuell laufende oder demnächst anlaufende Phantastikserien sind dort aufgezählt.

Allein an Serien! Dazu kommen noch die ganzen Filme von Marvel, DC, Star Wars, aus dem Harry Potter-Universum usw., dazu eine kleine Flut an Science-Fiction-Filmen (Alien:Covenant, Life, Arrival, Blade Runner 2049, Passengers – um mal ein paar aus diesem Jahr zu nennen), zahlreiche Jugendystopien und ihre Fortsetzungen. Man kann wahrlich sagen, dass die Phantastik im Mainstream angekommen ist und diesen aktuell sogar dominiert.

Doch führt der Erfolg dieser Filme und Serien auch dazu, dass Bücher aus diesen Genres (die ja oft die Vorlagen liefern) davon profitieren? So wie es einst der Fantasy im Fahrwasser der Herr der Ringe-Trilogie erging (Stichwort Völkerfantasy)?

Zum Erfolg von Game of Thrones und ob das Fantasygenre im Buchbereich davon profitieren würde, sagte Carsten Polzin von Pipers mal der Zeitschrift phantastisch! (habe jetzt nicht im Kopf, welche Ausgabe es war), dass davon vor allem einer profitieren würde, und zwar George R. R. Martin selbst. Einen Boom oder überhaupt ein gesteigertes Interesse für ähnliche Fantasybücher von anderen Autoren ist nicht zu erkennen. Dasselbe gilt für die Science Fiction. Nur weil das Genre an der Kinokasse brummt, heißt es nicht, dass auch die SF-Buchverkäufe steigen.

Aktuell wird über jeden neuen Trailer von Star Wars oder aus dem MCU und über jede neue Folge von Star Trek Discovery mehr diskutiert, als über die aktuell angesagtesten und aufregendsten Buchneuerscheinungen in den Genres Fantasy und Science Fiction. Selbst in Genreforen, in denen vor 10 Jahren hauptsächlich noch über Bücher diskutiert wurde.

Veränderte Sehgewohnheiten

Dank Tablets haben Netflix und Co. inzwischen auch das Bett (trotz Fernsehers im Schlafzimmer) und den Zug erobert, jene Domänen, die früher dem Buch vorbehalten waren. Denn früher gab es nicht diese Fülle an Phantastikserien, die jederzeit verfügbar waren. Star Trek Next Generation lief in der Woche um 15.00 Uhr im ZDF, Babylon 5 sonntags um 17.00 Uhr und Akte X anfangs am Freitagabend.

Heute sind die 90 Serien fast alle rund um die Uhr verfügbar. Und zwar deutlich günstiger, als wenn man alle auf DVD kaufen würde. Bei einem Netflixabo ist man ab 7.99 Euro dabei, bei Amazon Prime sogar für noch weniger im Monat. Hat man noch Sky dazu, hat man auch noch die Serien von HBO und Showtime dabei. Oft werden Staffeln am Stück veröffentlicht, was zum Bingewatching über das Wochenende einlädt.

Es erscheinen also immer mehr aufwendig produzierte und gut geschriebene Serien (auch wenn da natürlich viel Schrott oder Mittelmaß dabei ist), deren Ansehen viel Zeit erfordert. Zeit, die von der Lesezeit abgeht. Auf Twitter lese ich immer häufiger Kommentare wie: „Mit Erkältung im Bett, zum Glück gibt es Netflix“. „Ein Sonntagnachmittag mit Netflix, was gibt es Schöneres“. „Netflix hat mich in der Wartezeit auf dem Berliner Bürgeramt vor dem Wahnsinn bewahrt.“

Persönliche Erfahrungen

Ich lese nicht weniger. Allein in diesem Jahr habe ich schon 53 Bücher gelesen, obwohl ich Netflix, Amazon Prime und Sky abonniert habe. Aber während ich Serien wie Game of Thrones, The Expanse oder American Gods schaue, sinkt beim Lesen der Anteil an phantastischen Büchern. Was zum einen mit einem veränderten Themeninteresse bei mir liegen könnte, zum anderen aber auch, an einer gewissen Sättigung. Bei den drei obengenannten Serien frage ich mich zum Beispiel, ob ich die Buchvorlagen überhaupt lesen soll, wo ich doch schon die Serien gesehen habe.

Trend zu Buchadaption

Meinem Empfinden nach dominieren aktuell Phantastikfilme den Film- und Serienmarkt. Und die meisten dieser Filme scheinen auf Büchern, Comics oder Kurzgeschichten zu basieren:

Marvel, DC und fast alle Superheldenstoffe
Arrival
Annihilation
Game of Thrones
The Expanse
Altered Carbon
The Witcher
Shannara Chronicles
Nine Princes of Amber
Luna
Ready Player One

Um mal ein paar aktuelle und kommende Titel zu nennen.

Als kürzlich der Trailer zu Annihilation veröffentlicht wurde, verfolgte Jeff VanderMeer, der Autor der Vorlage, wie sein Buch bei Amazon kurzfristig bis auf den vierten Verkaufsplatz stieg. Jedes Buch, das verfilmt wird, wird von den Verlagen neu aufgelegt, weil es kurzfristig zu einem gesteigerten Interesse an der Vorlage sorgt.

Doch ich frage mich, ob wir inzwischen nicht den Punkt erreicht haben, an dem diese Flut an Phantastikserien den Buchvorlagen und allen anderen Büchern eher schadet?

Kein Problem der Phantastik allein

Amazon Prime und Netflix sind natürlich keine reinen Phantastikportale, auch Serien wie House of Cards, Orange is the New Black, Mozart in the Jungle, Designated Survivor usw. werden geschaut. Und die Buchverkäufe brechen ja insgesamt in allen Bereichen ein. Wenn auch verstärkt wohl auf dem Taschenbuchmarkt im Unterhaltungssegment.

Hinzu kommt, dass immer mehr Buchneuerscheinungen. Um die 90.000 sollen es pro Jahr ungefähr sein, plus die ganze Flut an Selfpublishern. Immer mehr Bücher für immer weniger Leser. Da wird es für die einzelnen Titel natürlich immer schwerer, schwarze Zahlen einzufahren (wobei das für Serien ebenfalls gilt, ich persönlich glaube ja, dass da bald eine Serienblase platzt und die Zahl der Neuproduktionen drastisch zurückgehen wird).

Meine These – die ich natürlich nicht beweisen kann – lautet also, dass die veränderten Sehgewohnheiten durch Streamingportale wie Netflix und Amazon Prime (wo es neben Serien ja auch Filme gibt) mit dafür sorgen, dass die Menschen weniger Lesen und die Zahlen der Buchkäufe zurückgehen, dass sich dies aber besonders auf die Phantastik auswirkt, weil gerade dieses Genre im Bereich der Serien und des Films einen nie dagewesenen Boom erlebt.

Es gibt natürlich nicht die eine Antwort auf die Frage, warum weniger gelesen wird. Da spielen auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und der technologische Fortschritt eine Rolle. Vielleicht wird ja auch gar nicht weniger gelesen? Sinkende Verkaufszahlen bei neuen Büchern bedeuten nicht zwangsläufig weniger Leser. Was man sich früher noch mühsam in einigen wenigen Antiquariaten gebraucht erstöbern musste, findet man heute mit einem Klick bei Rebuy oder Medimops. Über Facebook gibt es zahlreiche Büchertauschgruppen. Und immer mehr LeserInnen betreiben mehr oder weniger gelungene Blogs, um Rezensionsexemplare abzustauben. Dazu noch Dumpingpreise bei Selfpublishern aber auch bei Verlagen in Bezug auf E-Book-Aktionen und zahlreiche Gewinnspiele usw.

In den letzten Jahren hat sich über das Internet eine Kostenloskultur bzw. eine Billigpreiskultur in Bezug auf Bücher (aber auch andere Medien) entwickelt, die unter anderem auch zu Flatrateangeboten führen, die Autorinnen, Verlagen und Buchhändler aber wenig, bis nichts einbringen.

Kleine Randbeobachtung

Eine Gruppe, die als Leser wegfällt, scheinen ausgerechnet die Autoren selbst zu sein. Je länger ich in der Buchbranche und Szene tätig bin, desto mehr Autoren lerne ich kennen. Und eine erschreckend große Zahl von ihnen gibt zu, selbst kaum noch Zeit, Energie oder Lust zum Lesen zu haben (gerne aber Serien gucken und ins Kino gehen). Was ich sehr schade finde, dass ausgerechnet jene, die ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht haben, ihr in der Freizeit nicht mehr nachgehen. Stephen King gibt an, im Jahr um die 80 Bücher zu lesen, aber er kann sich sich vermutlich auch Assistenten leisten, die sämtliche administrativen und häuslichen Tätigkeiten für ihn übernehmen, während der klassische Midlistautor, der mindestens zwei Bücher pro Jahr schreiben (oder übersetzen) muss, um über die Runden zu kommen, alles alleine meistert.

Wie seht ihr das? Lest ihr weniger, weil ihr inzwischen mehr Serien schaut?

4 Gedanken zu “„Klauen“ uns Netflix und Co. die Zeit zum Lesen?

  1. Ich glaube, dass Du mit diesen Beobachtungen ziemlich nahe am Thema dran bist – und wir im Augenblick den Medien- und Interessenwandel durchlaufen, der das Buch als Medium zwar nicht komplett aushebeln wird, aber dennoch zeigt, dass neuen Mediumformen bzw. verbesserten Medienformen à la Fernsehen im Sinne von Netflix & Co. auf lange Sicht das Wasser abgraben wird.

    Ich würde zwar noch hinzufügen, dass die digitale Revolution durch das Smartphone ihr Übriges beisteuert (geringere Konzentrationsspannen eignen sich nicht für 600-seitige Wälzer), aber dann wäre das ja nur ein Argument, endlich wieder zu den Seitenzahlen Prä-90er zurückzukehren – damals waren nämlich die GRRMs, Tad Williams‘ und Räder der Zeit in ihrer Länge eher unüblich.

    P.S.: Ich kämpfe mich nach jahrelanger Fast-Abstinenz in der regelmäßigen Lektüre von Büchern (100+ war durchaus drin und üblich, damals in den guten, altern Zeiten) zum Lesen zurück mit festen Tagesabläufen – beim Frühstück werden kapitelweise wissenschaftliche Texte gelesen, abends vor dem Schlafengehen optimalerweise die leichtere Kost. Doof nur, dass meine Frau Netflix bestellt hat 😉

  2. Ich würde da von einer Marktverschiebung sprechen. Klar, in den letzten Jahrzehnten sind immer mehr neue Freizeitbeschäftigungen und Medien dazugekommen, die dem Buch Konkurrenz machen. Mein subjektiver Eindruck ist es aber, dass gerade Anbieter wie Netflix und Amazon Prime mit der Fülle an hochwertigen Serien und den technischen Möglichkeiten (ständige Verfügbarkeit, Smartphone/Tablet + Downloadfunktion) genau jene Menschen ansprechen, die sonst im Zug/Flugzeug oder im Bett zum Buch gegriffen hätten. Und seit Serien wie »The Sopranos« oder »The Wire« und dem sogenannten Quality TV sprechen sie nicht nur reine Unterhaltungsleser an, sondern auch jene, die vor allem zu komplexen und anspruchsvollen Romanen gegriffen haben.

  3. Ich glaube, da kommt einiges zusammen. Dass die Zahlen von Verlegerseite bzw. Buchhandel einseitig sind, hast du ja schon angedeutet. Gebrauchtbuchhandel spielt sicherlich eine Rolle (Leihbibliotheken eher weniger), inwiefern da berücksichtigt ist, dass es mitllerweile sicher auch einen Anteil an Lesern gibt, die des Englischen (oder anderer Sprachen) so mächtig sind, dass sie nicht mehr zu Übersetzugen, sondern zu Originalen greifen. Die Verkaufszahlen der deutschen Verlage beeinflusst das bestimmt, im Buchhandel müsste sich das weniger niederschlagen (wobei englische Bücher viel online gekauft werden).
    Eine subjektive Beobachtung möchte ich aber noch ergänzen: An meinen eigenen Kindern und an Lesegruppen, die ich hier in der Grundschule betreut habe, ist mir Folgendes aufgefallen: Kinder haben grundsätzlich einen Hunger nach guten Geschichten. Lesen ist eine ziemlich anspruchsvolle kognitive Tätigkeit. Kinder, denen das Lesen aus irgendwelchen Gründen leichter fällt (und das ist selbst in unserem Buch-affinen Haushalt sehr unterschiedlich), lernen schnell, dass man den Geschichtenhunger sehr gut mit tollen Büchern stillen kann, diese Kinder können dann sehr schnell immer besser lesen, ihnen macht das Lesen Spaß und wenig Mühe; die anderen Kinder stillen ihren Geschichtenhunger woanders, wo es kognitiv weniger anstrengend ist und machen dann auch keine großen Fortschritte im Lesen – wozu auch? Bei den Gruppen, die ich betreut habe, konnte ich feststellen, dass alle in den kleinen Gruppen in der zweiten Klasse, in der Lesenlernen noch im Mittelpunkt der schulischen Bemühungen stand, gleichermaßen Fortschritte machten, in der dritten Klasse, wenn davon ausgegangen wird, dass die grundlegende Technik beherrscht wird, die Lesefähigkeit und Leselust bei denen, die nicht auch in ihrer Freizeit lasen, stagnierte.
    Wie gesagt, das basiert auf persönlichen Beobachtungen einer sehr kleinen Gruppe. Ich könnte mir aber vorstellen, dass das häufiger der Fall ist – und eben auch bei Erwachsenen, die diesen Weg gegangen sind. Wer greift nach einem anstrengendem Arbeitstag schon zum Buch, wenn das Lesen mühsam ist und man spannende (und sogar komplexe) Geschichten auch anders geliefert bekommt?

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..