„Der Kanon mechanischer Seelen“ von Michael Marrak

Michael Marrak ist ein Wandler, der seine Leser mit Worten beseelt, Portale in ihrem Verstand öffnet und ganze Welten durch den Orb aus dem Chronoversum in ihre Köpfe hineintransportiert. Das Buch verschlingt einen, lässt dem Geist Füße wachsen, mit denen er staunend durch eine Welt zu allen Zeiten wandelt, während das Licht längst verloschener Sterne auf einen hinabscheint und in einer melancholischen Zeitendämmerung von der Vergänglichkeit des Seins kündet. Wie Schäume, die in Wogen durch Sphären tosen, bis der Zeitenbrand sie hinwegnegiert hat, dem Sensenmann gleich, der mit scharfer Klinge in knochigen Fingern Seelen sammelt und im undurchdringlichen Schwarz seiner eigenen Existenz verschwinden lässt.

Wer sich auf dieses Abenteuer einlässt, wird Ninive begegnen, einer jung wirkenden Frau, die seit Äonen einsam durch eine postapokalyptische Landschaft voller mechanischer und elektronischer Fauna wandelt und aus Langeweile Uhren, Lampen und Öfen beseelt, die ihr dann vorlaut und vergesslich Gesellschaft leisten.

Wer sich auf dieses Abenteuer einlässt, wird Aris begegnen, einem jung wirkenden Wandler auf wichtiger Mission, entsand vom Dynamo-Rat, die undurchdringliche Bannmauer zu durchdringen, mit Kompass, Karte und einem durch eine uralte Bibliothek gestählten Verstand bewaffnet.

Wer sich auf dieses Abenteuer einlässt, wird dem Tod begegnen, und ihn mit einem Lächeln begrüßen – wenn auch auf sicherem Abstand, um nicht dem Zeitbrand anheimzufallen -, ihm einen Eimer Kalk zum netten Nachmittagsplausch anbietend.

Wer auf dieses Abenteuer eingelassen wurde – denn Widerstand ist zwecklos, wenn das Schicksals-Ganglion die Fäden in der Hand hält -, wird am Ende der Zeit tanzen, auf den zermahlenen Knochen einer untergegangenen Zivilisation, in einer Ära, die wir erst noch träumen müssen.

Es ist die präzise Sprachgewalt, die überbordende Fabulierkunst Michael Marraks, die uns keine Wahl lässt, als uns kopfüber in eine Welt voller einzigartiger Ideen zu stürzen, bis unsere Synapsen im Hirn vor Freude tanzen ob des bunten Spektakels, das sie endlich wieder einmal fordert, und jenem Zwecke zuführt, für den sie einst von der Evolution geschaffen wurden.

Mit staunenden Augen begleiten wir die Äonenkinder Ninive und Aris, ihren beseelten Hausrat wie den Ofen Guss, die Stehlampe Glogger und die Lampe Luxa, den Monozyklopen Sloterdyke und weitere Wundergestalen am Ende aller Tage auf einer abenteuerlichen Reise, an deren Ziel es die verbliebene Welt zu retten gilt. Neben dem grenzenlosen Ideenreichtum, den Michael Marrak mit unvergleichlicher Fabulierkunst präsentiert, hebt sich der Roman auch sonst von bekannten und eingefahrenen Erzählmustern ab. Es gibt keinen Bösewicht, keine Antagonisten, bis auf ein paar kleine Gastauftritte nicht einmal Figuren, die wirklich unsympathisch rüberkommen. Unsere HeldInnen müssen Probleme lösen, nicht Schurken besiegen.

16 Jahre ist es her, seit ich Lord Gamma von Michael Marrak gelesen habe. 16 Jahre, in denen ich stets diesen arschcoolen Roman nannte, wenn es um die Frage ging, was mein liebster deutschsprachiger Science-Fiction-Roman sei. 16 Jahre, in denen ich dieses Buch als meinen liebsten SF-Roman nannte, auch wenn ich gar nicht danach gefragt wurde. Jetzt hat es Konkurrenz bekommen. Lord Gamma las ich im Sommer 2002, als ich während der Semesterferien in einem Lager für Apothekenbedarf arbeitete. Eine eintönige Arbeit, die um sechs in der Früh begann und sich anfühlte, als würde man mit einem entseelten Rollator eine öde Wüstenstraße entlangzockeln und Müll vom Aspahlt aufklauben, während der Wind einem den Sand in die Augen trieb, immer und immer wieder, unter gleißender Sonne, jeden Tag aufs Neue. Und dann hatte ich Mittagspause oder Feierabend, öffnete den grünen Buchdeckel und saß plötzlich in einem Pontiac ohne Motor, der eine endlose Straße entlangrollte, während aus den Boxen Radio Gamma tönte und ich mich von einem Abenteuer ins nächste stürzte und geklonte Varianten meiner Freundin aus grotesken Bunkern rettete und dann erschoss.

Wie konnte dieser Roman nie ins Englische übersetzt werden? Wie kommt es, dass er nur noch antiquarisch erhältlich ist? Ist den die ganze Welt verrückt geworden? Erkennt denn die Bücherwelt nicht, was für einen großartigen Phantasten und Schriftsteller sie an Michael Marrak hat?

Marrak selbst gibt Stanislaw Lems Robotermärchen als Einfluss an, die Filme von Hayao Miyazaki und Michael Moorcocks Am Ende der Zeit. Aufgrund seiner Sprachgewalt musste ich aber auch an Thomas Zieglers Sardor denken.

Auf der Chuck-Norris-Skala von eins bis unendlich gebe ich dem Roman unendlich Minus eins, um für kommende Werke noch Spielraum nach oben zu haben. Gegen Ende wurde er mir einen Tick zu lang und zu technisch.

Das Buch ist im umtriebigen und engagierten Kleinverlag Amrun erschienen. Zwar kostet das eBook nur 6.99 Euro, trotzdem lohnt es sich, das Hardcover für 24.90 Euro zu kaufen, enthält es doch zahlreiche Illustrationen und die schöne Umschlaggestaltung von Meister Marrak persönlich und liegt beim Lesen einfach gut in der Hand.

Wer mehr über die Entstehung des Romans erfahren möchte, der aus mehreren Novellen hervorgegangen ist, und eine Zweitmeinung einholen will, sollte diese tolle Besprechung von Ralf Steinberg lesen.

P. S. ich habe diese Besprechung noch gar nicht geschrieben, wenn ihr sie schon lesen könnt, ist das Zeitengefüge aus den Fugen geraten … da hilft jetzt nur noch treten – einmal kräftig gegen das Multiversum.

P.P.S bei dem Namen Sloterdyke musste ich erst ganz uncharmant an eine schlotternde Lesbe denken, bevor mir der philosophierende Schnauzbart in den Unsinn kam, der sich geistig durch ähnliche Sphären bewegt wie unser Monozyklop auch in physischer Form.

Der Kanon marrakscher Seelen (unvollständig)

3 Gedanken zu “„Der Kanon mechanischer Seelen“ von Michael Marrak

  1. Coole Rezi! Bist dem Buch also auch endlich verfallen …

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