Das Teufelsloch von Antonia Hodgson

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»London stinkt. Ein widerwärtiger nach Exkrementen, Abfall, toten Tieren und sonstigen Ekelhaftigkeiten stinkender Geruch steigt aus der Kanalisation hinauf und verpestet die Luft in der Stadt. Hinzu kommen noch die zahllosen Gerüche von Gerbereien, die Hundekot verarbeiten, Händler, die teilweise verfaulten Fisch verkaufen, dem ganzen Unrat, der auf der Straße landet und nicht zu vergessen, die unzähligen Körpergerüche der Londoner, für die sauberes Wasser ein Luxus ist« schrieb ich in meiner Kritik zu Clare Carkes historischem Roman Der Vermesser, indem es um die Erneuerung der Kanalisation im Jahr 1855 geht. Über hundert Jahre zuvor – im Jahr 1727 – sah und roch es in London nicht viel besser. Doch der allgemeine Schmutz auf den Straßen der britischen Metropole war noch harmlos im Vergleich zu dem, was jene arme Schlucker erdulden mussten, die im Schuldgefängnis Marshalsea landeten.

Mit Unrat übersäte Flure, die nach Pisse und Scheiße stinken; Zimmer voll Kranker, die an den Pocken oder am Faulfieber dahinsiechen; Verwesungsgeruch der Toten, die jeden Morgen aus den Sammelzellen der Common Side gezogen werden. Menschen, die an Leichen gekettet werden, mit Schädelkappen und Halseisen, während ihnen die Ratten bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen nagen. Auch im Schuldgefängnis gibt es Hierarchien und eine Klassengesellschaft.

Jene auf der Master’s Side, die für ihre Unterkunft zahlen können, speisen in gefängniseigenen Gasthäusern, schäkern mit den Dirnen, spielen Federball im Park und Backgammon im Schatten der Bäume. Jene arme Socken, denen dafür das nötige Kleingeld fehlt, müssen auf der Common Side im Elend dahinvegetieren, in völlig überfüllten Sammelzellen im eigenen und fremden Dreck eingepfercht und von Seuchen geplagt, nur Haut und Knochen, kurz vor dem Hungertod – auch Frauen und Kinder.

In diese Umstände gerät der Lebemann Tom Hawkins, nachdem der passionierte Glücksspieler seine Mietschulden nicht mehr zahlen kann. Dass er nicht direkt im Elende der Common Side landet, hat er einflussreichen Freunden und Gönnern zu verdanken. Dass er sich Hoffnung auf Freilassung machen kann, liegt daran, dass er in einem Mordfall ermitteln soll. Und so taucht er vom ersten Tag an in die kleine Parallelwelt des Schuldgefängnis Marshalsea und seiner skurrilen und faszinierenden Bewohner und Besucher ein. Denn das Schuldgefängnis ist anders als ein normaler Knast offen für Besucher; es geht nicht um die Bestrafung der Inhaftierten, sondern um deren finanzielle Schröpfung. Während sie praktisch in Geiselhaft sitzen, müssen ihre Verwandten und Freunde versuchen, jene Schulden zu begleichen, die sie in Gefängnis brachten, und jene, die der Aufenthalt dort unter dem geldgierigen Direktor Acton mit sich bringt.

In einer Welt, in der jeder auf seinen eigenen Vorteil aus ist, weil dieser das Überleben bedeutet, kann Hawkins niemandem trauen; alle haben Grund zum Lügen, vom griesgrämigen Schließer über die hübsche Schankmagd bis zum Gefängnispriester. Immer dichter wird dieses undurchsichtige Gewirr aus Intrigen und Täuschungen.

Ein faszinierender Kosmos, den Antonia Hodgson so anschaulich und lebhaft bis ins kleinste Detail hervorragend recherchiert schildert. Mich hat die Geschichte von Anfang an gepackt und mitgerissen. Ein knallharter historischer Thriller, der nichts beschönigt, nichts verklärt – nichts für LeserInnen von historischer Landscape and Romance, sondern für jene, die sich nicht zu fein sind, in die faulig stinkenden Niederungen der Vergangenheit hinabzusteigen, zu den Verlierern der damaligen Gesellschaft, ausgebeutet und verkauft, dem Elend ausgesetzt, aus reiner Profitgier.

Die Übersetzung von Katarina Volk liest sich ganz ausgezeichnet und authentisch, sprachlich sehr elegant, ohne unnötigen Schnörkel.

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